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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 8
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Lier, Leonhard: Kritisches über Tageskritik
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0128

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giltigc Kunstmcinung; auch ist es nicht Ausgabc der
Kunst, Meinungen zu erwecken, sonderu Genuß im
edlen Sinne des Wortes zu schasseu. Mit dem kaltett
Urteil ist dem Kt'mstler nicht gedieut; er wünscht den
Ausdruck der Empfiudung, des Gedankens, die er in
ein Werk gelegt hat, in dem Echo der Genießenden
wieder zu höreit. Diesen Gefühlscindruck verinag
keine Kritik pro ok oontru wegzuwischen; sie ist ohn-
mächtig gegen den Menschen, der zum Menschen
spricht, und mag sie nn Form und Jnhalt noch so
viel auszusetzen haben. Leider ist unser deutsches
Publikum von der Kritik noch sehr abhängig, statt,
ivenn nicht über ihr, so doch wenigstens neben ihr
zu stehen. Das Bedürsnis der Menge nach Autori-
tüten schafft Autoritüten und setzt sie zuweilen auch
wieder ab, ohne sür die eine oder die andere Be-
zeigung ihres Wiltens ausschlaggebende Gründe zu
haben. Wie in der Politik leider noch immer die
Mehrheit nach oben schaut und bald Partcisührer be-
gehrt, bald eine sührende Regicrung, nur um des
eigenen Nachdenkens überhoben zu sein und der
cigenen Verantwortung, so auch in Sachen der schönen
sreien Künste, wo doch ein jeder berusen ist, selbst
Priester zu sein. Freilich ist eine Arbeitsteilung
wohl oder übel notwendig, und man braucht auch
Kunstpriester, aber sicher doch nicht Kunsttyrannen.
Wie die englische Presse — darin von der deutschen
wesentlich unterschieden und sie überragend — weit
weniger bemüht ist, Parteidoktrinen zu lehren,
was sich der selbstündige Brite nicht lange gefallen
lüßt, sondern durch umfassende und vielseitigc Bericht-
erstattung und durch weitgehende Berücksichtigung von
Stimmen aus dem Leserkreise zur eigenen Beurteilung
der öffentlichen Fragen anzuregen, so sollte die Kritik
auch dnrauf ausgehen, nicht zu bevormunden, sondern
das in dem Kopse der Leser ruhende eigene Urteils-
j vermögen srei zu machen, zur Bethütigung anzu-
j stacheln und mit ihren eigenen Urteilen und Gründen
eine ganze Schlachtlinie von Gegenurteilen und Gegen-
gründen in Bewcgung zu sctzen. Die Kritik sollte
, weit weniger zur Ersparung der eigencn Arbeit der
Leser beizutragen^bemüht sein, als dazu, das Jnteresse
j aufzurütteln. Aus diesem Gebiete winkt ihre dankbarste
Ausgabe. Nicht so sehr als Bildnerin des Geschmackes
soll sie dienen/ denn als Anreiz, ihn selbst zu
üben. An einem blinden Beisall kann ihr sv wenig
liegen, wie der Kunst; beide sind individuell und
wollen von Jndividuen begrüßt werden.

Man braucht nur aus die verschiedenen Methoden
der Kritik einzugehen, um zu erkennen, daß ein auch
nur aunühernd gleiches Endergebnis der llnter-
suchung ausgeschlossen ist. Die eine Methode berück-
sichtigt mehr die Form der Kunstwerke, die andere mehr
den Jnhalt. Diese weist an einem Bilde nach, daß

ein Gegenstand einer künstlerischen Behandlung nicht
würdig, zu ihm nicht geeignet sei, und sie klagt über
den Versall des Geschmackes, daß man eine gistgrüne
Wintersaat mit winterdürren Büumen schön sinden
könne, die andere sragt gar nicht nach dem Gegen-
stande und betrachtet oder tadelt die Mache. Eine
andere Methode der Kritik verführt historisch, sie weist
nach, daß ühnliche Kunstbestrebnngen schon unno da-
zumal lebendig gewesen seien, sreut sich, ein Ab-
hüngigkeitsverhültnis des Künstlers von einem anderen
oder von einer Schule nachweiseu zu könneu, wobei
es nicht einmal zu bestehen braucht, und findet ihren
höchsten Triiimph darin, den Verschlingungen zwischen
Altem und Neuem nachzugehen. Eine andere Methode
der Kritik wieder sußt auf irgend einer Lehre von dem
Schönen, eine andere auf den oder jenen Grundsützen
der Moral oder gar dcr Politik. Wieder eine andere
versührt rein analytisch, sucht sich in die Persöntichkeit
des Künstlers hineinzudenken, ffhm nachzufühlen; fic
fragt, was hat ihn angeregt, was wollte er, wie
wollte er's, wie ist cs ihin gelungen, konnte es ihm
gelingen nnd was der Fragen noch mehr sind.
Abermals eine andere kritische Methode vereinigt meh-
rere der genannten jMethoden und kommt natürlich
zu einem vielseitigeren Ergebnis. Jn den meisten
Füllen aber herrscht eine Einzel-Methode vor. Je
nach dem Punkte, von dem man ausgeht, gelangt
man zu verschiedenen Endpunkten. Nun lüßt sich
wohl eine ideale Methode der Kritik denken, die allen
Anforderungen bis auf die der Unpersönlichkeit ge-
nügte, die das Kunstwerk allseitig vom geschichtlichen,
vom üsthetischen, vom stofflichcn und formellen, vom
persönlichen und vom Gesichtspunkte des Einzelwerkes
erfaßte. Aber folcher Kritiker gibt es nur wenige;
universale Geister sind felten und die in der öffent-
lichen Meinung — man muß sageu, leider — am
unmittelbarsten und ftürksten einwirkende Kritik, die
des Tages und der Presse, hat zu wenig Atem, um
eine universelle Methode einschlagen zu können. Sie
mag es beginncn, wie sie will; kaum jcmals wird sie
in die Lage kommen, restlos zu sagen, was sie viel-
leicht sagen könnte. Jmmer fast wird eine Stelle
bleiben, die sie nicht berührt, und an diefer setzt der
Künstler ein, wenn er von Unbilligkeit, mangelndem
Verstündnis, ja Oberflüchlichkeit spricht. Das Maß
erscheint ihm stets zu kurz. Da das bei der Tages-
kritik so lange so bleiben wird, wie sie eben Tages-
kritik ist, ist die Verschiedenheit des Urteils zwischen
diesen und jenen Kritikern eine Wohlthat, eine Not-
wendigkeit, sollen Kunst und Publikum nicht zu kurz
kommen.

So beklagenswert sind also die Disfonanzen der in
die breite Oeffentlichkeit dringenden Kunsturteile nicht;
sie müsfen nur als solche empfunden und demgemüß
 
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