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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 17
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0276

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zusetzen. Jch kann aber unmöglich von einem ganz indi-
viduellen Psychologen erwarten, dasz eine breite Masse
ganz verschiedenartig empfindender Menschcn mit durch-
aus gleichgestimmter Teilnahme daran Jnteresse gewinne
und es in allen seinen Brechungen und Schattirungen
mit gleich anhaltendem Verständnis immerdar begleite.
Jch kann das um so weniger, als ich mir ein für allemal
klar machen muß, daß hier selbst sür den bereits spm-
pathisch erregten Teil der Zuhörerschaft strikteste Moti-
vierung eines solchen absonderlichen Spezialfalles bis in
die zartesten Einzelheiten hinein zum Nachsühlen und
Verstehen unbedingt nötig ist, daß aber diese ausreichend
begründete Seelenentwickelung in ihren inneren Phasen
der äußeren Form nach nur in der Novelle, zuweilen
noch wahrscheinlicher lediglich im ausgedehnteren Romane
ganz möglich wird, wührend durch die abkürzende Dra-
matisierung an sich schon auch den Verständnisinnigsten
und selbst da, wo sie im »fruchtbarsten Moment« des
Werdeprozesses vom Dichter gepackt worden ist, wichtige
llebergänge und wesentliche Bindeglieder solcher Seelen-
erörterungen, oft bis zum Übrigbleiben nur mehr der
nacktesten logischen Beweisführung, entgehen müssen.

Keinen Augenblick stehe ich an, es für ein hohes und
unbestreitbares Verdienst unserer neueren Dramatik zu
erklüren, daß sie — in dem klaren und sicheren Gefühl,
daß hier noch etwas zu geschehen habe und daß Technik
und Form gegen früher wieder mehr auf den Ausdruck
der Zeit einzustellen seien — oft schon durch die stoffliche
Wahl auf die psychologische Vertiefung des dramatischen
Vorganges und die Schürfung des sprachlichen Ausdruckes
vor allem wieder gedrungen hat, iin vollbewußten Gegen-
satze zu der srüheren Haupt- und Staatsaktion, der rein
äußerlichen Handlung lürmender Geschehnisse und einer
mehr theatralischen Rhetorik im älteren Historien- oder
Ritter-Schaustück. Jm Bilde gesprochen: der Blick war
neu zu stärken und unser Bleistift gleichsam wieder feiner
zu spitzen. Nun aber beides geschehen, wollen wir doch
wicder schreiben und zeichnen lernen. Jn diesem Sinne
ist ja ganz zweisellos der tosende Berliner Erfolg Wilden-
bruchs mit seinem »König Heinrich« im vergangenen
Winter — Zumal gegenüber so manchen Berliner Nieder-
lagen der neueren Wortführer — ein recht beschämendes
Exempel geworden. Allein er ist und bleibt eben doch
auch wieder symptomatisch sür den augenblicklichen Stand
der Dinge und zeigt nur zu deutlich, daß man gewisse
Grundlinien dramatischer Wirkung nicht ungestraft dauernd
außer Acht laßen darf. Erst von d e m Augenblicke an,
da wir uns offen eingestanden haben werden, daß die
dramatisierte Novelle nur ein notwendiges, organisches
und historisches Ü b e r g a n g s st a d i u m, daß sie nur
Vorstudie zur modernen Dramenkunst im eigentlichen,
reifsten Sinne hin zu bilden hatte, werden wir zugleich
wieder hoffen dürfen, solchen populären, praktischen Siegen
dramatischer Rückständigkeit mit Aussicht auf durchgreifen-
den Ersolg begegnen zu können. Jn diesem Zusammen-
hange scheint mir der annoch unverstandene, weitschauende,
als »erster Wurf« sreilich noch nicht völlig geglückte Ver-
such Gerhard Hauptmanns mit der großen realistischen
Historientragödie »Florian Geyer« — wie laut sür sein
prophetisch-vorahnendes Genie zu sprechen, so auch den
ersten gewichtigen Vorstoß ins dramatische Neulnnd und
die Zukunft unserer deutschen Bühnenkunst überhaupt zu
bedeuten. Allensalls auch Harlans Lustspiel »Jm April«
wäre da als bedeutsamer Vorbote eines neuen Frühlings


aufzufassen. Ein deutlich erkennbarer Stillstand ist auf
der ganzen modernen Linie in diesem Winter ohnedies
schon eingetreten; sorgen wenigstens die begabtcn Nach-
folger dafür, daß von einer kurzsichtigen Kritik nicht etwa
ein Land und Volk verwirrender Rückzug nun auf
einmal geblasen werde!

Auch noch gegen eine Menge anderer Dinge muß vou
einsichtsvoller und dabei kräftig im Leben stehender §kritik
ehrlich nachgerade Front gemacht werden, wenn wieder
reine Bahn geschaffen und die Sackgasse vermieden werden
soll. Sind wir nümlich aus der einen Seite dazu gelangt,
den exorbitanten und anormalen Ausnahme-Fall
als günstigen Dramenvorwurf abzulehnen, oder doch
wenigstens zu bestreiten, so muß auf der anderen Seite
endlich auch dagegen Einwand erhoben werden, das
Leben so einseitig immer nur in der Zimmerstuben-
Stickluft auszusuchen und gewohnheitsmüßig fast nur
mehr aus de'm Schriftsteller- oder Kunstwinkel zu be-
trachten. Jbsens Baumeister Solneß und Almers, Haupt-
manns Pros. Crampton und vr. Johannes Vokerath,
Sudermanns Willy Janikow und Magda, E. v. Wolzogens
Gebrüder Kern, Flaischlens Martin Lehnhardt und Jost
(im »Pan«), Fuldas ld>-. Egon Wulff, der Held von
Harlans »Sein Beruf«, Halbes, Strindbergs und Dreyers
Hauptgestalten — fast alle sind sie Künstler, Gelehrte oder
Feuilletonisten; sie schreiben Artikel und große Bücher,
oder arbeiten an »weltbewegenden« Werken. Ein mit-
leidsloses »ÜLi-t your I'urt« des materiellen Luxus in-
mitten der brandenden Wogen sozial-demokratischer Volks-
bewegung entsteht hier bis zur geistigen Beschrünktheit
und Verranntheit in lauter Milieu, Jnterieur und eitel
Jntimitüt, und man erhält alsbald bei längereni Hinsehen
den Begriff eines unverantwortlich egoistischen Müßig-
ganges, je mehr auf der modernen Szene in Wohlleben
immer getafelt, in Zigarrensorten geschmaucht und in
Villengürten spazieren gegangen und je weniger gearbeitet,
geschafft, zum Gemeinwohl gefördert und an werkthätiger
Liebe geleistet wird, je seltener wir serner von der Groß-
stadt-Atmosphäre Berlin VV loskommen, vom geistigen
Berlinertum der Besitzenden dabei erlöst werden können,
und je mehr uns die Männer als überarbeitete, abge-
spannte, krankhast überreizte Nervositätspersonisikationen
und launisch-entncrvte Schreibtischhocker gcschildert werden.
Ja, diese Männer — welch traurige, schwachsinnige, teils
brutale, theils charakterlose Menschenklasse gigerlhnfter
üu-äs-8iöcIe-Dekadence haben wir im neueren Drama seit
Jbsens »Nora« nicht vor unseren Augen heraufsteigen
sehen! Bald sind sie als Menschen »inkonsequent« — bis
zum Exzeß, wie man zu sagen pflegt; bald wieder sind
sie intolerant, tyrannisch und rechthaberisch bis zur Ver-
alberung in unsreiem geistigem Hochmutsbann; und das
nimmt sich bei ihnen dann nur um so sonderbarer aus,
als sie meist ohne ein markiges Rückgrat, erblich belastet
und durch ein zweifelhaftes Vorleben körperlich verkrüppelt
oder sittlich heruntergekommen auftreten. Besonders ein
geistiger Verwandtschaftszug hat sie snst alle an der Stirne
gezeichnet; niemals haben sie Verständnis und Feingefühl
sür die ihrer schützenden Obhut anvertraute weibliche
Psyche der Lebensgesährtin; die tiefen Geheimnisse des
unberührten Mädchen-Herzens und alle die sanften und
stolzen, herben und zarten, wilden und weichen Regungen
einer Frauenseele sind für ihre blasierte, befleckte und ver-
dorbene Gemütsrohheit ein Buch, mit sieben Siegeln ver-
schlossen. Gibt es einen bezeichnenderen Anhaltspunkt,


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