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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 19
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Avenarius, Ferdinand: Jugend
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0304

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Selbstzweck, denn als Ware, und wenn es dabei eine stets
wachsende Verbreitun.q gefunden, so zeigt es, daß es ein
glücklicher Griff war, wie einst die »Fliegenden Blätter«.
Die »Fliegenden«. Der Vergleich mit diesen liegt zu nahe,
um nicht an ihm dem Charakter der »Jugend« gerecht zu
werden. Zuerst: sie soll kein Konkurrenzblatt sür die Flie-
genden sein, die ja in ihrer Art nicht übertroffen werden
können. Deren Charakter steht seit Jaffrzehnten fest und
hat sich nicht geändert; stets sind sie das konservativ vor-
nehme Blatt geblieben, das Jahr für Jahr, Nummer für
Nummer, i'mmer in der gleichen Weise und immer gleich
vorzüglich die kleinen Schwächen der menschlichen Gesell-
schaft überschaut, von der Höhe eines sonnigen Optimrsmus
aus. Es ist eine lustige, harmlose Welt, die in den Flie-
genden lebt, da gibt es kein Elend und keine Sozialdemo-
kratie. Und in diese bunte Schellenkappe winden sie wie
dustige Rosen kleine Proben einer Lyrik, die wenig von
Stürmen und Drängen weiß. Nie bringen sie etwas, was
nicht jedem Kinde in die Hand gegeben werden könnte
und wurzeln doch nicht weniger sest in der Erde. Gerade
dieser ausgesprochene Charakter bildet ihre Stärke; so hat
man sie liebgewonnen, und wenn sie das Wunder sertig
bringen würden, ewig jung zu bleiben, dann könnte man
der Welt wünschen, daß sie in hundert Jahren noch genau
dasselbe bedeuten könnten, wie heute: daß sie auf ihre
Weise der Welt den Spiegel vorhalten. Aber der Spiegel
der Welt zeigt mehr; alles was unser heutiges Leben be-
wegt, verlangt nach künstlerischem Niederschlag und muß
im Bilde erscheinen, auf dem, mag es nun den Muckern passen
oder nicht, all das Dekadente, Mystische mit sein muß,
und auch das Erotische verlangt seinen Platz. Von dieser
Mission übernimmt die Jugend einen großen Teil. Wenn
man ihre Heste durchblüttert, findet man neben vielem,
was allerdings mehr wie eine unbeabsichtigte Karikatur auf
modernste Kunst anmutet, so viel Schönes, daß man wirk-
lich in den brodelnden Kessel der jungen Künstlerschaft zu
blicken meint. Aber auch die jungen Alten sind nicht fern
geblieben, und wir finden u.a. Lenbach und Fr. A. v. Kaul-
bach, Lugo und Otto Seitz aufs beste vertreten. Und von
den Jungen? Um aus dem vollen zu nennen: Otto Eck-
manns ebenso geistvolle wie schöne Ornamentik, von Julius
Diez Jllustrationen, die ein blühendes Talent verraten,
vonZumbusch ein reizendes Titelblatt von Robert Engels in
Düsseldorf, von Fidus, Schmidthammer, Wilkie, Haß, Rie-
merschmidt und vielen andern höchst talentvolle Arbeiten.
Aehnlich der literarische Teil. Neben Paul Heyse und Her-
mann Lingg gar viele Namen, die Kürschners Kalender
nicht aufweist; vieles Ungenießbare, Gesuchte und Abge-
schmackte, weit mehr Lustiges und Schönes und durch das
Ganze eine prächtige, manchmal übermütige Laune, auf der
Grundlage eines gesunden und ehrlichen Sinnes.

Noch ein zweites Blatt ist jetzt gegründet worden, das
im allgemeinen ühnliche Tendenzen vertritt. Nach den bis
jetzt vom »Simplicissimus« erschienenen Heften zu urteilen,
scheint unbillig, vielmehr ersreut man sich vor allen Dingen
daran, daß auch er Front machen will gegen das Spieß-
bürgertum, als ein Repräsentant der treibenden, noch un-
berühmten Kräfte. Das äußerliche Vorbild für den Simpli-
cissimus ist, wie er in seiner Ankündigung selbst ausspricht,
der »Gil Blas«, nun wollen wir hoffen, daß der Simpli-
cissimus genau so deutsch werden wird, wie jener auss
Pariser Pflaster paßt; daß die demokratischen Jdeen, die
bir jetzt in ihm aufgetreten, nur so weit gehen, wie sie

jeder klare und freie Kopf von je gehegt, und nie Hetzereien
gleichen werden."

Jch halte die Münchner „Jugend" und auch den
„Simplicisfimus" für berechtigte und nützliche Unter-
nehmungen, wie Schultze-Naumburg sie dafür halt.
Wir brauchen Freiheit, Freiheit und noch einmal
Freiheit des geistigen Lebens, brauchen die aus ihr
erwachsende Toleranz gegen anders als wir Geson-
nenes, — im Kampfe gegen Zimperlichkeit und zah-
lungsfähiges Philistertum, diese Todfeinde jeder Auf-
richtigkeit in der Kunst hat der Mann Schulter an
Schulter mit dem Jüngling zu stehn. Kommen wir
Vierzigjährigen uns dem jüngern Geschlecht gegenüber
dann und wann schon alt vor, so ist es deshalb
unsre Pslicht, uns durch nahe Berührung mit ihm
nach Möglichkeit srisch zu halten, damit unsre Arbeit
mit oerwerte, was sie von der Jugend lernen kann.
Lernen kann ja der Ältere vom Jüngeren jeder Zeit,
wie der Jüngere jeder Zeit vom Älteren. Da es
aber neben dem Auswärts auch ein Niederwürts in
der Kulturgeschichte gibt, so soll sich der Ältere doch
hüten, der Jugend blindlings zu solgen.

Fragen wir uns nun einmal, welche Bedeutung
denn überhaupt die Jugend eines Geschlechtes sür
die Kunstentwickelung der Zeit habe.

„Die Jugend ist die Zukunst" — die Antwort
liegt so nahe, daß sie jedem zunächft in die Finger
kommt. Aber das eben möchten wir bitten, gerade
sie nicht ohne das bewußte Körnchen Salzes zu ge-
nießen. Nicht in jeder Beziehung „ist" die Jugend
die Zukunst; so banal es klingt, es wird ja alle
Tage vergessen: gerade das Jugendliche als svlches
vergeht ja beim Älterwerden. Wir brauchen das, so
satal es für den Einzelnen ift, in seiner Wirkung
auss allgemeine nicht zu beklagen, denn jedes Lebens-
alter hat seine eigenen Vorzüge und Schwächen,
und sie alle miteinander sind in der Kultur einer
Epoche thätig. Weil aber die Schwächen der Jugend
in unsrer Erinnerung mit den Lustgesühlen des Jung-
seins verbunden sind, find wir ost geneigt, sie ohne
weiteres für Werte, sür Stärken zu Halten, ja sür
Kräste, deren Ausnützung für unsre Kultur wichtiger
ift, als die Verwertung der Kräste der Älteren. Doch
ist es wohl höchft zweiselhast, ob die Welt rascher vor-
wärts käme, wenn allein die geistigen Eigenschasten
der Jugend sie lenkten.

Zunächst: im allgemeinen hat nicht der Jüng-
ling die größte geistige Leistungsfühigkeit, sondern
der Mann, so lange sein Gehirn noch nicht „still-
fteht". Es ist wohl nicht nötig für diese allbekannte
Thatsache Beweise zu geben — wer wollte sie be-
ftreiten? Jm Mannesalter verwertet unser Gehirn
erst recht, was es in der Jugend ausgesaugt und
 
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