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Der Kunstwart: Rundschau über alle Gebiete des Schönen ; Monatshefte für Kunst, Literatur und Leben — 9.1895-1896

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Heft 22
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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.11730#0357

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und die das Uncrquickliche des Stoffes so nufdringlich
inacht, daß ich ivenigstens mich cines Widerwillens wie
vor einer Prostitution im Geiste nicht erwehren kann.
Wenn sich Hysterie und Perversität die Hand reichen, hat
der Leser wohl doch das Recht sich zu weigern, der dritte
im Bunde zu sein. Er geht ungern von Maria Janitschek,
denn sie ist eine hervorragende Frau von starkem heifz-
blütigen Tcmperamente. Die Skizze „Jn Weitz" darf
man, glaube ich, ein Meisterstück nennen. Nach den sieben
überpfeffertcn Gerichten sehnt man sich aber nach etwas,
das den Geist nährt, nicht nur reizt. Und so legt man
schlietzlich unbefriedigt das Buch aus der Hand, in dem
das stoffliche und künstlerische Jnteresse abwechseln statt
zu verschmelzen, in dem man sich bald oor pspchiatrischer
Lektüre, bald vor Poesie fühlt, ein Buch, das seden-
falls kein einheitliches Ganzes ist.

Wer, wie ich, gezwungen ist, sich andauernd mit so-
genannter Damenliteratur zu beschäftigen, muß sich vor
einer leisen Resignation, noch mehr vor einer weichlichen
Toleranz hüten. Nicht allzu oft kann man überzeugungs-
voll mit aufgemunterter Tonhebung sagen: recht nett,
ganz hübsch, wirklich sein. Ganz selten drängt sich ein
energisches: Gott sei Dank, das ist einmal etwas, auf die
' Lippen. Als ich hundert Seiten von Hedwig Dohms
„Sibilla Dalmar" gelesen hatte, fand ich diese erlösenden
Worte und, am Schlusse des starken Bandes angelangt,
möchte ich mein frohes Urteil nur etwas beschränken,
keineswegs aber aufheben.

„Thatsächliches" aus dem Buch lätzt sich nicht gut
mitteilen, weil es sehr wenig oavon enthält. Es er-
zählt in Tagebuch- und Briefform vom Leben Sibillas.
Als Kind plaudert sie von Schule und Schulsreun-
dinnen, schilt über die Lehrer und klagt über Müdig-
keit. Ein feines, blasses Gesicht mit dunkeln Augen
blickt zwischen den Zeilen hindurch, ein Bildnis wie
von Dora Hitz gemalt nach einem Kinde, das nie ein
Kind gewesen ist. Mit zs Jahren feiert sie trotz der
jüdischen Abstammung als Ballkönigin Triumphe; der
leichtsinnige Vater sonnt^ sich im Glanze der jugend-
schönen Tochter, die schwache Mutter verhätschelt das von
Huldigungen überschüttete Kind. Sibilla ist klug, klüger
als rhre Dutzend-Verehrer, sie liebt Zeitungen mit der
Landkarte in der Hand zu lesen, sie treibt Philosophie
und Literatur, wie das schöne Frauen treiben. Einen
Fehler hat sie — sie ist arm. Das Arbeiten kennt sie
nicht, schon das Wort beleidigt ihre zarten Ncrven. Was
bleibt anderes übrigens, um Jugend und Reize zu
bewahren, als eine reiche Heirat? Benno Raphalo ist
gut, erzählt lustige Anekdoten, hat Geld — warum also
seinen ehrlichen Antrag zurückweisen, nachdem so mancher
Vornehmere die arme beiwte verlassen und dem jungen
Herzen den ersten Liebesschmelz geraubt hat? Das junge
Paar lebt in München, zunächst still. Sibilla vegetiert;
München schätzt noch nicht das Berliner Phänomen. Das
Gold wächst in Bennos Händen, mit ihm Pracht, mit
ihr von neuem Sibillas mädchenhnste Schöne. Künstler,
Dichtcr, Grafen, alle spannen sich in malerischer Abwechs-
lung einzeln oder zu zweien vor ihren Triumphwagen.
Sie selbst crlaubt es lnchelnd, bleibt aber selber kühl bis
auf einzelne Nervenaufregungen, Autosuggestionen. Sie
liebt es, sich und andere zu ironisieren, über Frauen-
schicksal und Lebensungerechtigkeit zu philosophieren, vor
allem mit sich und jedem anderen zu kokettieren. Stets
lieben müssen, nie lieben können, das ist ihr Los, Müdig-

§ keit an Körper und Scele ihr Fluch. Da tönt mitten in
das dümmernde, klingende und duftende Gescllschafts-
leben ein Naturlaut, in der bLute voläo der Lreme
erscheint ein blonder Herkules, ein sozialistischer Re-
dakteur — dem scheint die Weltdame Sibilla das echte,
reine, freie Weib. Und ihr ists ansänglich Ernst, dann
ein besonderer Sport, den sozialistischen Drachentöter am
seidenen Fädchen zu leiten. Schlietzlich wird sie doch in
sreicr Liebe seinWeib, gibt ihm ein Kind und stirbt bald
darauf. Gab sie sich ihm aus Liebe, aus Verzweiflung,
aus Enttäuschung? Es hat alles mögliche mit hineinge-
spielt. Datz sie „nervös, kapriziös, bezaubernd, abstotzend,
Vamppr, Sphinx u. s. w." sei, versteht sich ihr selber von
selbst. „Jch bin von einer seinen, heimlich lauernden,
grausamen Neugierde, kapabel, das Herz eines Menschen
zu martern, aus Neugierde, was dabei herauskommen
wird." Sie sieht eine neue Zeit heraufdümmern und
sehnt sich nach ihr, und ist doch so sehr das kranke Kind
der alten, datz sie viel zu zerfahren, zu zerrissen, zu schwach
ist, der Zukunft irgendwie entgegenstreben zu können.

Die Darstellung dieser Hauptgestalt erscheint mir
meisterhaft; ich möchte jedem raten, sie scharf zu be-
trachten, der vor dem Dunkel in unserer modernen Ge-
sellschaft kein Auge zu schließen braucht. Für Schwache
und Schwankende ist das Buch nicht geschrieben; solchen,
zumal hpsterischen Frauen, würe es eine gesährliche
Lektüre. Der Gesunde wird eine gesunde Schilderung
kranker Menschen und kranker Zustände darin sinden.
Ein künstlerischer Mangel des Werkes ist, datz Hedwig
Dohm aus die Menschen ihres Herzens, aus die Verfechter
der neuen Zeit zu einseitig Licht gesammelt hat, so datz
sie dadurch zuweilen unwahr scheinen. Aber es ist ein
grotzer innerer Reichtum in dem Buch, eine Fülle, die
mit sprudelnder Lebendigkeit ans Licht tritt. L.

Die lNagyari u. Erzählung aus dem ungarischen
Räuber-Leben von Ad a m Mü l l e r - G utt enb runn.
(Leipzig, Georg Heinrich Meyer.)

Der srühere Direktor des Raimund-Theaters, der
nicht nur um das österreichische Bühnenwesen im engeren
Sinne, sondern durch seine treffliche Kritik auch um die
deutsche Literatur in Osterreich überhaupt so verdicnt ist,
tritt hier wieder einmal nls Erzühler auf. Eine Liebes-
geschichte, die mit zwei Toten und einem Grabe schlietzt,
umrahmt da ein Kulturbild aus der Zeit der Besetzung
Ungarns durch deutsch-österreichische Soldaten, in den
sünfziger Jahren. Obgleich der kleinen Geschichte dichterische
Eigenschasten nicht abzusprechen s nd, sehen wir ihren
größten Wert in der ganz vortrefflichen sarbigen Schilder-
ung des eigentümlichen Stückes Kultur, in dem sie spielt.
Jn dieser Beziehung ist die Erzühlung ganz ungewöhn-
lich gut.

Reinheit. Novellen von Wilhelm von Po len z.
(Berlin, F. Fontane L Co.)

Nach dem geradezu bedeutenden „Büttnerbauern"
Wilhelms von Polenz dürfen diese Skizzen und Erzühl-
ungen vielleicht als Zwischenstücke betrachtet werden, die
der Dichter vor neuer großerArbeit gleichsam zur Erhol-
ung geschrieben hat. Sie sind nach Ansprüchen und
Leistungen verschieden und so verschieden auch hinsichtlich
ihrer Grundstimmungen, datz wir vom Schwankhaften
bis zum Lyrisch-Elegischen gesührt werden. Aber überall
lohnt sich das Lesen, und das Beste ist auch hier wirklich
fein, eigenartig und dichterisch.
 
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