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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0066

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Wertheim.

halb der Brücke eignete sich gut zum Auswerfen der Angelu, und es
hielten sich deshalb hier gerue Knaben und Mädchen auf, teils um
selbst zu fischen, teils um zuzuschauen. — Eines Nachmittags stahl
ich mich aus der Wohnuug, bog mir eine Stecknadel zu einer Angel
zurecht, baud sie mit Schnur, Kork und Federkiel an eine Rute und
eilte damit zum Stadeu, wo ich bereits große Gesellschaft sand. Jch
stellte mich zu unterst ans Ufer, befestigte eine Fliege an die Nadel
und warf die improvisierte Augel in den Fluß. Unter deu Kindern
befand sich ein kleiner. pausbackiger Junge im langen Röckchen. Er
kam dem Flusse zu nahe und fiel hinein, die Flut trieb ihn rasch fort
am Staden hin abwärts. Die Kinder erhoben ein großes Geschrei:
„Die Polizei kommt!" und liefen davon. Jch allein blieb zurück nnd
sah, wie die Strömung den Kleinen in seinem gebauschten Röckchen
gegen mich herantrieb. Alsbald warf ich die Angelrute znr Seite,
kniete am Ufer nieder, beugte mich vornüber, erwischte den Rock, zog
den Knaben ans Land und stellte ihn auf die Beine. Dies alles ge-
schah in einem Augenblick. Jetzt begann das Kind, das vom Wasser
triefte, furchtbar zu schreien. Die entflohenen Kinder liefen wieder
herbei und faßten Mnt, mich aber überkam jetzt erst die Angst vor
der Polizei, die damals jedem Deutschen schon in der Wiege als
grausiger Popanz vorgehalten wurde. Jch überließ den Geretteten
seinen älteren Spielkameraden, die ihn zu seinen Eltern heimführten,
Glasersleuten, die in der Nähe der Brücke wohnten, und lief, so
rasch ich konnte, die Angel im Stiche lassend, nach Hause zu meiner
Schnlaufgabe.

Es war mir am nächsten Tage bedenklich zu Mute, als mich der
Pfarrer in seine Studierstube rufen ließ. Vermutlich hatte er er-
fahren, daß ich angeln gegangen war, statt mich hinter „den kleinen
Broeder" — die lateinische Schulgrammatik jener Zeit — zu setzen,
und ich war eines scharfen Verweises gewärtig. Jn der That, der
Pfarrer hielt mir eine Strafpredigt über den Text: „Fischfang und
Vogelstellen verdirbt manchen guten Gesellen." Jch war herzlich froh,
daß er nicht von dem Kinde sprach, das ich aus dem Wasser gezogen
hatte, und nicht von der Polizei, vor der ich mich rechtfertigen zu
müssen fürchtete.
 
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