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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0098

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Mnn Bruder Nudolf.

Dichterbund geschlossen, dem er beitrat. Weniger erbaut von ihm
schienen seine Lehrer. Er stand nach wie vor mit den alten Sprachen
anf gespanntem Fnße, und ein lateinischer, mit Fehlern reich gespickter
Stil bereitete seinen klassischen Stndien für immer ein Ende. Die
argen Versündigungen wider die edle Sprache Latiums in diesem
Schriftstück hatten den Professor S., den größten Schulfuchsepl,..des
Lyceums, ganz aus dem Häuschen gebracht. Mit dem Stilheft in
der Hand hatte er sich vor dem unglücklichen Lateiner aufgestellt und
die ganze Flut seiner vernichtenden Kritik über ihn ergossen. Seine
Erregung wuchs von Minute zu Minnte, und zuletzt erhob er die
Hand, als wolle er zum Schlage ausholen. Jn geziemender Haltung
hatte der Schüler stehend bisher mit kalter Ruhe den Tadel hin-
genommen, jetzt aber erhob auch er die Hand und die Angen der
ganzen Klasse hafteten bange an der peinlichen Scene. Da sank zuerst
die Hand des Lehrers, die des Schülers folgte, erleichtert atmete die
Klasse auf, aber das Schicksal Rudolfs war besiegelt, die letzte Latein-
stunde hatte für ihn geschlagen. /

Schon vorher hatte der Freund meines Vaters ihn gebeten, er
möge ihm Rudolf wieder abnehmen, er könne die Verantwortung für
diesen verwegenen Menschen nicht länger tragen. Der gnte Mann
war ein ängstlicher Bnreaubeamter, an den Schreibtisch gebunden und
der freien Luft entwöhnt. Er fürchtete das kalte Wasser wie den
bösen Feind und mußte schaudernd erfahren, daß Rudolf — es war
im Winter — im Rhein zwischen den Eisschollen sich badend ver-
gnügt habe. Seit dieser Nachricht, so lautete sein Brief, bekomme
er eine Gänfehaut, wenn er Rudolf ansehe. <

Jn dieser betrübten Lage ging mein Vater auf den Vorschlag
eines befreundeten Beamten in Wiesloch ein, fi^r.einen Menschen,
wie Rudolf, konnte man keinen verkehrteren erdenken. Der Amts-
revisor, ein gewiegter Kameralist, hatte an dem Burschen Gefallen
gefnnden und meinte, er könne ihn zu feinem Gehilfen und mit der
Zeit zu einem branchbaren Beamten feines Faches erziehen. Er nahm
ihn auf die Schreibstube und Rudolf fand sich, in Ermangelung eines
Befseren, eine Weile darein. Da überraschte ihn eines Tages sein
Vorgesetzter beim Reinschreiben eines Liedes zum Lobe der edeln
 
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