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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0211
Romantik u. Rationalismus zu Beginn d. Jahrhunderts in Heidelberg. 191
schreiber Schlosser, pflegte innige Frenndschaft mit dem alten Voß der
berühmte Anatom Friedrich Tiedemann. Er war von dem trefflichen
Berater und Minister Karl Friedrichs', dem Freiherrn von Reitzen-
stein, 1816 von Landshut berufen worden. Die Wahl war aus-
gezeichnet, denn was damals die deutschen medizinischen Fakultäten am
nötigsten brauchten, waren nüchterne Forscher, und nüchterner als Tiede-
mann konnte niemand sein. Während die Vorlesungen Schellings alle
andern Hörer hinrissen, wurde er, der sie in Würzburg besncht hatte,
gerade dnrch sie von allen naturphilosophischen Anwandlungen für im-
mer geheilt. Seitdem blieb er, wie er seinem Schwiegersohn Bischoff*)
erzählte, ein unentwegter Anhänger Franz Bacons. — Eine Anekdote,
die in Heidelberg umlief, kennzeichnet vorzüglich oas hausbackne Ur-
teil des Anatomen. Ein befrenndeter Professor, der Orientalist Hanno,
überreichte ihm ein Bündchen überschwänglicher Gedichte, die er eben
dem Druck übergeben hatte. Tiedemann las darin den gewagten Aus-
drnck: „Auch mein Herz ist voll bis über'n Rand!" — „Aber was
sällt Jhnen ein, mein Lieber?" verwies er dem bestürzten Dichter seinen
unglücklichen Vergteich, „meinen Sie, das Herz sei eine Waschschüssel?"
Der induktiven Methode hnldigte wie Tiedemann die ganze medi-
zinische Fakultät. Diese bestand im Beginn meines Stndiums neben ihm
aus den Ordinariis Franz Carl Naegele, Maximilian Josef Chelius, Ben-
jamin Puchelt und Leopold Gmelin, aus dem Extraordinarius Theodor
Bischofs und dem Prosektor Lndwig Kobelt. Daß die induktive Methode
nicht notwendig den Forscher und Lehrer trocken und ledern machen
muß, bewies in diesem Kreise der alte Geburtshelfer Naegele, einer
der unterhaltendsten Professoren, die je einen Lehrstuhl einnahmen.
Kaum eine der deutschen medizinischen Fakultäten stand so fest
auf dem einzig sichern naturwissenschaftlichen Boden wie die Heidel-
berger, und nur eine war ihr an Bedeutung ihrer Lehrer überlegen,
die Berliner. Den Triumvirn Johannes Müller, Dieffenbach und
Schönlein waren die Tiedemann, Chelius und Puchelt nicht ebenbürtig,
Naegele allein, um den sich Berlin vergeblich bemüht hatte, dnrfte sich
ihnen als gleicher zur Seite stellen.
*) v. Weech, Bad. Biogr., Bd. II, S. 352.
schreiber Schlosser, pflegte innige Frenndschaft mit dem alten Voß der
berühmte Anatom Friedrich Tiedemann. Er war von dem trefflichen
Berater und Minister Karl Friedrichs', dem Freiherrn von Reitzen-
stein, 1816 von Landshut berufen worden. Die Wahl war aus-
gezeichnet, denn was damals die deutschen medizinischen Fakultäten am
nötigsten brauchten, waren nüchterne Forscher, und nüchterner als Tiede-
mann konnte niemand sein. Während die Vorlesungen Schellings alle
andern Hörer hinrissen, wurde er, der sie in Würzburg besncht hatte,
gerade dnrch sie von allen naturphilosophischen Anwandlungen für im-
mer geheilt. Seitdem blieb er, wie er seinem Schwiegersohn Bischoff*)
erzählte, ein unentwegter Anhänger Franz Bacons. — Eine Anekdote,
die in Heidelberg umlief, kennzeichnet vorzüglich oas hausbackne Ur-
teil des Anatomen. Ein befrenndeter Professor, der Orientalist Hanno,
überreichte ihm ein Bündchen überschwänglicher Gedichte, die er eben
dem Druck übergeben hatte. Tiedemann las darin den gewagten Aus-
drnck: „Auch mein Herz ist voll bis über'n Rand!" — „Aber was
sällt Jhnen ein, mein Lieber?" verwies er dem bestürzten Dichter seinen
unglücklichen Vergteich, „meinen Sie, das Herz sei eine Waschschüssel?"
Der induktiven Methode hnldigte wie Tiedemann die ganze medi-
zinische Fakultät. Diese bestand im Beginn meines Stndiums neben ihm
aus den Ordinariis Franz Carl Naegele, Maximilian Josef Chelius, Ben-
jamin Puchelt und Leopold Gmelin, aus dem Extraordinarius Theodor
Bischofs und dem Prosektor Lndwig Kobelt. Daß die induktive Methode
nicht notwendig den Forscher und Lehrer trocken und ledern machen
muß, bewies in diesem Kreise der alte Geburtshelfer Naegele, einer
der unterhaltendsten Professoren, die je einen Lehrstuhl einnahmen.
Kaum eine der deutschen medizinischen Fakultäten stand so fest
auf dem einzig sichern naturwissenschaftlichen Boden wie die Heidel-
berger, und nur eine war ihr an Bedeutung ihrer Lehrer überlegen,
die Berliner. Den Triumvirn Johannes Müller, Dieffenbach und
Schönlein waren die Tiedemann, Chelius und Puchelt nicht ebenbürtig,
Naegele allein, um den sich Berlin vergeblich bemüht hatte, dnrfte sich
ihnen als gleicher zur Seite stellen.
*) v. Weech, Bad. Biogr., Bd. II, S. 352.