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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0217

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Friedrich Tiedemann.

197

ein Hohepriester der Wissenschaft in das Amphitheater, nahm uns
Hörern gegenüber an einem kleinen Tische Platz, breitete ein Heft vor
sich aus, las und gab zunächst eine Auseinandersetzung des Wesens
der Anatomie und ihres Nntzens. Eindringlich ermahnte er uns, das
Kollegium nicht zu schwünzen und uns in jeder freien Stunde im
Prüpariersaal fleißig zu üben. Noch heute klingen mir seine Worte
am Schlusse der Vorlesung in den Ohren: „Aerzte ohne Anatomie
gleichen den Maulwürfen. Sie arbeiten im Dunkeln und ihrer Hände
Tagewerk sind — Erdhügel."

Seine Vorlesungen waren Vorlesungen im wahren Sinne des
Worts, sorglich ausgearbeitet und das Pensum für jede Stunde nieder-
geschrieben. Blatt für Blatt, Wort für Wort las er es ab, bedächtig
und deutlich, mit etwas näselnder, lauter Stimme. Gewissenhaft kam
jeder Muskel, auch der kleinste an der Wirbelsäule zu seinem Rechte,
wurde genau beschrieben nach Lage und Gestalt, Anheftung und mut-
maßlicher Bestimmung, nicht das kleinste Körnlein des trockenen Futters
durfte verloren gehen. Es war oft zum Sterben langweilig. — Er-
läuternde Tafelzeichnungen, wie sie schon Henle übte, unterbrachen die
Vorlesung nicht, wohl aber zahlreiche Demonstrationen meist frisch ver-
fertigter Prüparate. Der Beschreibung des Muskels, des Gefäßes oder
des Nervs folgte dessen Vorweis. — Tiedemann winkte dem Diener
Jakob, der mit dem Prüparate bereit stand, erhob sich und wandelte,
von ihm gefolgt, im Halbkreis durch das Amphitheater, mehrmals
machte er Halt und erlänterte genau mit den Worten des Heftes
den beschriebenen Teil. — Waren solche Demonstrationen in Aussicht,
so rüstete man sich im vorans mit Lesestoff; ich wählte mir einen
medizinischen: Dr. Katzenbergers Badereise von Jean Paul.

Eine große Ueberraschung, ein Meisterstück anatomischen An-
schauungs-Unterrichts, erwartete uns, als die Anatomie des Darms
an die Reihe kam. Die große Länge dieses häutigen Schlauches, die
beim Erwachsenen zwanzig und einige Fuß beträgt, wurde nns in
unvergeßlicher Weise vor Angen geführt. Beim Eintritt in den Hör-
saal sahen wir das Amphitheater bekränzt mit einer Riesenguirlande,
gebildet aus diesem wichtigen Organ, dessen unzählige Schleimhaut-
zöttchen als die Wnrzeln unseres Leibs in die verdaute Nahrnng ein-
 
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