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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0279

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Poliklinische Lehrzeit.

259

ich stolz. — „Und du fürchtest dich nicht?" „Vor wem sollte ich mich
fürchten. Kein Mensch thut mir etwas." — „Aber du den Menschen.
O Gott, deine arme Kranken!" — Aergerlich rief ich aus: „Drei
Wochen schon bin ich der Bergarzt und es ist mir noch niemand ge-
storben." — „Das wird schon kommen," warnte er.

Mein Rnf verbreitete sich rasch. Nach einigen Wochen drang
er schon über die Neckarbrücke. Ein Bote kam von Neuenheim: „Der
Herr Doktor möchten recht bald den alten Jakob besuchen." — Wie
mir dies wohlthat! Der höfliche Pfälzer würdigte mich des Doktor-
titels und des Ulirnalis mase8tati8. Jch versprach zu kommen. Zwar
hatten die Neuenheimer keinen Anspruch auf meine poliklinische Be-
handlung, aber mit dem alten Jakob mußte ich eine Ausnahme machen.
War er doch einst in besseren Zeiten der Kneipwirt der Curonia
gewesen, des Korps der Kurländer, als er noch die Schenke zum
Steinbruch an der Neuenheimer Landstraße besessen hatte. Das Korps
nnd die Schenke waren eingegangen, der Alte bewohnte jetzt ein
Häuschen an der Ziegelhäuser Landstraße.

Jch fand den Jakob im Bette und stellte die Diagnose „Uirmr-
moirin notlln", zn deutsch, „unechte Lungenentzündung." — Die
Bezeichnung ist nicht mehr gebrüuchlich, weil sie lächerlich ist; mit
demselben Rechte könnte man eine Stecknadel eine unechte Nähnadel
nennen; wir bezeichnen die Krankheit heute als „Lnonoliitm vnpillanm
aoiatn" und verstehen darnnter eine Entzündung der feinsten Bronchien
oder Luftröhrenäste; sie ist ein gefährliches Ding, besonders für crlte
Leute mit abgenützten Lungen. Es stand schlimm um den Alten, aber
ich vertraute auf Huselands „LvxRimäon meäicmra, das Vermächt-
nis 50jähriger Erfahrung" eines großen Meisters, das benützteste Hand-
buch der Heilkunde jener Zeit. Zur Vorbereitung auf die poliklinische
Praxis hatte ich es in den Ferien durchstndiert. Darin standen in
Reih und Glied die Krankheiten mit ihrem Signalement und dahinter
gute Rezepte, sie zu kurieren. Jch verordnete dem Alten Senega und
Goldschwefel, verhieß ihm Genesung und that noch ein Uebriges zu
Hause, indem ich den „kleinen Sobernheim" zu Rate zog, das be-
liebteste Handbuch der Arzneimittellehre bei uns Klinizisten. Es gab
außerdem einen „großen Sobernheim", ein „Handbuch der praktischen
 
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