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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0304

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Wunderkuren.

Erstaunt betrachtete mein Vater den Rest der Arznei. Sie ent-
hielt große Ameisen. Jhre scharfe Säure oder der Ekel, mit dem
sie der Kranke hinabgewürgt, hatte wie ein starkes Brechmittel dem
Bauern die Gesundheit wieder gebracht, — soviel stand fest. Wie
aber waren die Jnsekten in die Arznei gekommen? Nicht ohne Schwie-
rigkeit gelang es meinem Vater, das Rütsel zu lösen.

Der Bote, der die Arznei geholt hatte, war des Bauers Knecht,
der Tag war heiß gewesen, der Knecht müde. Jm Schatten eines
Föhrenwaldes, den er passieren mußte, ließ er sich nieder, um zn
ruhen, nahm die Arzneiflasche aus der Tasche und legte sie zur Seite.
Der Schlaf überkam ihn und als er aufwachte, fand er den Stöpsel
ansgetrieben; wie das gekommen, wußte er nicht zu sagen, vielleicht
hatte er selbst aus Neugierde ihn herausgenommen und den Trank
versncht. Ein kleiner Teil der Arznei war ausgeflossen, aus einem
nahen Ameisenhaufen wanderten die Tierchen in langer Prozession zu
dem füßen Saft und in die Flasche. Eilig verschloß er die Flasche,
steckte sie wieder zu sich und ließ heimgekehrt rnhig seinen Herrn,
dessen Zorn er fürchtete, die Arznei samt den Ameisen nach Vorschrift
stündlich einen Eßlöffel voll genießen. —

Auch eine Namensverwechslung kann zur Wunderkur führen,
wovon uns Naegele eine lächerliche Geschichte zum besten gab.

An der Heidelberger Hochschule war von 1806 — 1824 Hofrat
Schelver Profesfor der Botanik. Er befaßte fich neben der Botanik
mit magnetischen und Kräuterkuren und stand beim Landvolk im Rnfe
eines Wunderdoktors. Eines Tags bat ihn eine Bauersfrau um ein
Mittel gegen Rheumatismus, ihr Mann habe den „Fluß" im rechten
Arm und fei unfähig, ihn zu gebrauchen. Er riet Hahnenfuß auf
den Arm zu binden und meinte damit den scharfen Wiesenranunkel,
aber die gute Frau fchlachtete ihren alten Haushahn, schnitt ihm die
Beine ab und band sie auf den Arm. Der Fluß heilte und der
Profesfor erfuhr mit Verwunderung, welche Heilkraft in den Beinen
des alten Haushahns gesteckt habe.

Derlei Knren sind eher wunderliche als wirkliche Wunderkuren.
Das Wunder beginnt erst dann, wenn der Glaube Berge verfetzt und
fcheinbar Unmögliches fertig bringt.
 
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