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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0327
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Prüfung auf dem Krankenbette.

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klische" Krankheit sei, die sich durch Blutentziehungen in ihrem Gange
nicht irre machen lasse.

Mein Appetit war sechs Wochen lang gänzlich verschwunden, da-
gegen quülte mich ein unlöschbarer Dnrst infolge der riesigen Schweiße.
Neben frischem Wasser trank ich anfangs große Mengen von Limonade
und später von Buttermilch. — Die erste feste Speise, die ich zu mir
nahm, waren geschabte, süuerliche Aepfel.

Unter solchen Umständen war es kein Wunder, daß ich zum
Skelet abmagerte. Der Vater meines Freundes Bronner besuchte
mich acht Tage, nachdem ich das Bett verlassen hatte. Tief erschreckt
schrieb er seinem Sohne Eduard nach Paris, ich sei dermaßen abgezehrt,
daß ich unmöglich genesen könne.

Noch hente bin ich den Freunden und Bekannten dankbar, die
mir in den Nüchten hilfreich beistanden, darnnter Prof. Karl Schaible,
dessen ich schon srüher gedachte, nnd der Geh. Hofrat Oskar Dirnf ssn.
in Kissingen. Eine trefsliche Pflegerin war mir eine der klinischen
Würterinnen, eine lange, schlanke Person, die meine Freunde die See-
schlange nannten. Sie war mir dankbar zugethan, weil ich sie in
den Herbstferien an einer Perityphlitis glücklich behandelt hatte; nach
einem Aderlaß waren Geschwulst, Schmerz und Fieber rasch bei ihr
verschwunden.

Die arme Seeschlange! Ein langes Leben schien ihr beschieden,
aber sie hatte ein zürtliches Herz und vermochte die Untreue ihres
Geliebten, der ihr die Ehe versprochen, nicht zu überleben. Sie ver-
schaffte sich im Hospital ein Fläschchen Opiumtinktur. Jm Wahne, das
Mittel, dem so viele Kranke Ruhe und süßen Schlaf verdanken, müsse
ihr in großer Gabe einen leichten Tod verschaffen, leerte sie es auf
einen Zug und büßte ihren Jrrtum mit einem langen und schweren
Ringen mit dem Tode.

Meine schmerzhafte Krankheit ist mir ein guter Lehrmeister ge-
worden. Wer selbst auf der Folterbank gelegen hat, fühltiam wärmsten
mit den Gemarterten, er begreift ihr Jammergeschrei, aber auch ihre
leisen Senfzer finden bei ihm volles Verständnis. Es giebt viele
Dinge in der ärztlichen Praxis, die der wissenschaftlichen Medizin
gleichgiltig sind, aber sür den Kranken Labsal und Balsam; wer anf
 
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