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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0389

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Bei Rokitansky.

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fahren angehenden Aerzten nicht genug empfehlen. Die Lage erleidet
viele individuelle und durch Krankheit bedingte Abweichungen, deren
Kenntnis für Diagnose und Behandlnng gleich wichtig ist. Wer nur
wenig Sektionen gesehen hat und diese Verschiedenheiten nicht kennt,
wird in der Behandlung der Unterleibskrankheiten nie Besonderes leisten.

Die Gesichtszüge Rokitanskys trngen den Stempel großer Herzens-
güte und Zuverlässigkeit, jedermann verehrte ihn. Er war ausfallend
schweigsam. Jm Leichenhause öffnete er den Mnnd nur, um Protokolle zu
diktieren. Nachdem ich vier Monate lang Stammgast im Leichenhanse ge-
wesen war, geschah es an einem schönen Herbstmorgen, daß die Skalpelle
kurze Zeit ruhten. Jch benützte die Pause, um vor die Thüre zu treten
und frische Luft zu schöpfen. Gleich nachher erschien auch Rokitansky
und stellte sich naye bei mir in die Sonne, die warme Luft des Hofes
behagte ihm sichtlich. Mit einemmale wandte er sich gegen mich,
nickte mir frenndlich zn und bemerkte: „Heute ist schönes Wetter!" —
Jch war überrascht. Wenn Jairi Töchterlein plötzlich anferstanden mit
lautem Gruße aus dem Leichenhause zu mir gewandelt wäre, hätte
ich mich nicht mehr gewundert, doch nahm ich mich zusammen und
erwiderte bestätigend: „Ja, es ist wirklich ein schöner Tag!" — Das
Gespräch war damit zu Ende, es war das erste und einzige, das ich
von ihm gehört habe.

Wie wenig mitteilsam anch und trocken Rokitansky für ge-
wöhnlich erschien, so wurde er doch plötzlich umgewandelt, wenn wührend
der Sektionen Ungewöhnliches zu Tage kam. Dann fing er Fener,
man sah es am Leuchten seiner Augen; sein Blick bohrte sich sofort
in den merkwürdigen Fund, er griff zu Skalpell und Schere. setzte
sich an einen kleinen Tisch, den einzigen, der zur Hand war, und
vertiefte sich ganz, präparierend und sinnend zngteich, in das anatomische
Rätsel, das vor ihm lag.

Mein Freund und ich hütten gerne einen Kurs über pathologische
Anatomie bei dem großen Meister genommen, er gab Privatissima,
aber wir brachten die nötige Zahl von Teilnehmern nicht zusammen.
Die Wiener trösteten uns: wir verlören weniger, als wir meinten,
Nokitansky sei ein großer Anatom, aber ein mittelmäßiger Lehrer. So
ließen wir es denn bei einem Kurse von wenigen Stunden über Sektions-

Kußmaul, A., Jugenderinnerungen. 24
 
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