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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0463

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Weitere Erlebnisse in Rastatt.

443

Ein hochgewachsener Mensch in den Dreißigen, trug Reuter
langes, dunkles Hanpthaar, die Ziige seines lünglich geschnittenen Ge-
sichtes atmeten sorglose Jovialität. Er war wirklich noch nicht ganz
wiedergenesen und rückte, nachdem ich ihn einige Tage behandelt, vor
den Zimmergenossen mit dev Bitte gegen mich heraus, ich möchte ihm
nächstens, wenn der Untersuchungsrichter sich bei mir nach seiner Ge-
sundheit erkundige, bezeugen, daß er noch nicht krüftig genng sei, vor
dem Standgerichte zn erscheinen. Er wisse, seine Akten für das Stand-
gericht seien nahezn abgeschlossen, er wünsche aber, daß der Termin zu
seiner Aburteilung noch etwa 14 Tage hinausgeschoben werde, je länger.
desto besser. Die Richter müßten doch endlich des Erschießens müde
werden, er hosse dann eher mit dem Leben davon zu kommen. Das Zucht-
haus sei zwar kein „Pläsier", aber besser, als der Tod im Wallgraben.
Jn der That gelang es, den Untersuchungsrichter zu überzeugen, daß
Reuter sür das Standgericht noch nicht hinreichend hergestellt sei.

Am 15. Oktober teilte mir mein Patient mit, daß er am nächsten
Vormittag vor die Richter gesührt werde. Er dankte mir für alle er-
wiesene Güte und war voll Zuversicht, es lasse sich anch in Bruchsal
leben und er hoffe anf baldige Begnadigung nach Amerika.

Bisher hatte ich weder Zeit noch Lust gehabt, den Sitzungen
des Standgerichts anzuwohnen, diesmal aber trieb es mich, hinzugehen.
Jch wollte den lustigen Musikauten die Rolle eines Tragikers svielen
sehen. Jn der That war es ein merkwürdiges Schauspiel, dem ich
anwohnte, Philipp Renter verdiente Bewunderung. Bescheiden, ein
bleicher, leidender, mitleidswerter Mann saß er, leicht vorn übergebeugt,
auf der Anklagebank. Er konnte seine Angst nicht ganz verbergen,
obwohl er sich atle Mühe gab, die Miene des Gerechten und Tu-
gendhasten, den das Unglück verfolgt, zu bewahren; er lauschte anf-
merksam auf die Worte des Anklägers, der Zengen und des Ver-
teidigers, keines entging ihm. Die Aussagen der Zeugen warsen mit-
unter Streiflichter auf die Amtsführung des Herrn Proviantmeisters,
die eine allgemeine Heiterkeit entfesfelten, aber er blieb ruhig und ge-
lassen. Erst als zuletzt der kritische Zeitpnnkt gekommen war, wo
Bankier Meyer an Stelle seiner Frau aussagte, trat seine innere Er-
regung und ängstliche Spannung unverkennbar zu Tage, aber bald
 
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