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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0485

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Landpraxis und Landärzte.

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dingt aus. Bei der aufgeklärten Bevölkerung des Hügellandes stieß ich nie
auf Widerstand, nicht felten wurden sie ausdrncklich von den Hinterblie-
benen verlangt. Für mich dienten sie zur Kontrolle meiner Diagnofe
und Therapie, der Pfufcher in seiner selbstzufriedenen Unwiffenheit be-
darf ihrer nicht; den Angehörigen brachten sie häufig tröstliche Be-
ruhigung, wohl anch die Mahnnng, rechtzeitig geeignete Vorkehrungen
gegen die Wiederkehr gleichen Leidens in der Familie zu treffen.

Da man wnßte, welchen Wert ich auf Sektionen legte, forderte
mich eines Tages der Gemeindediener eines kleinen, nahe am Rhein
gelegenen Dorfes auf, ich möchte feine Tochter, die an einer chroni-
fchen tuberkulöfen Bauchfellentzündung litt und bei abgezehrtem Leibe
einen riesig geschwollenen Bauch hatte, sezieren, fobald sie, wie ja
vorauszusehen sei, ihren Leiden erlegen sein würde. Die ganze Ge-
meinde fei neugierig, zu erfahren, was in dem großen Bauche des
Müdchens stecke. Obwohl auch ich die Kranke für verloren hielt, ver-
wies ich ihm feine Rede: man dürfe nie von der Sektion fprechen,
ehe der Kranke gestorben fei! Sie war ein Mädchen von 16 Jahren und
genas, obwohl sie in einer elenden Hütte lag, fchlecht verpflegt wurde
und außer Leberthran kaum ein Arzneimittel nahm. Dieser Fall
von fpontaner Heilung der^ meist tödlich verlaufenden Krankheit war
der erste, den ich sah; ich habe fpüter ähnliche „Naturheilungen" be-
obachtet: die Krankheit heilte ohne jede Behandlung mit Medikamenten,
Hydrotherapie oder chirurgifchen Eingriffen; als unumgänglich not-
wendig erwies sich nur ruhiges Liegen und pasfende Ernährnng. Wie
wohl angebracht meine Vorsicht gegenüber dem Gemeindediener war,
hat der unerwartet günstige Verlauf der Krankheit gelehrt. Welche Fülle
von Spott hätte sich über den sektionslustigen jnngen Doktor ergoffen,
wenn er begierig zugesagt hätte, den Wunsch dek Gemeinde zu erfüllen!

Jm 4. Hefte des Archivs für physiologische Heilknnde von
1852 habe ich zwei interesfante, in Kandern gemachte Beobachtungen
jener akuten vielfachen Knochenentzündung veröffentlicht, die erst zwei
Jahre fpäter durch die Epoche macheude Abhandlung von Chasfai-
gnac als akute Osteomyclitis allgemein bekannt wurde: eiuen Fall
mit Ausgang in Genesung, den andern mit tödlichem Verlaufe und
Sektionsbefnnd.

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