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Kussmaul, Adolf
Jugenderinnerungen eines alten Arztes — Stuttgart, 1899

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https://doi.org/10.11588/diglit.15258#0504

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Gelähmt.

zu erleichteru, und versuchte daun, an deu folgendeu Tagen, durch warme
Bäder die gestörte Hautthätigkeit wieder herzustellen. Mein Zustaud
blieb unveräudert, ich litt viel an Schmerzen und Krämpfen in den
Beinen, mit Unterstützung konnte ich mühsam stehen, jedoch nicht gehen.

Gegen Ende der ersten Woche verleiteten mich Sorge nnd Un-
geduld zu einer eingreifenden Kur, die ich bei einem andern Kranken
nicht gewagt hätte; sie fußte hauptsächlich auf meinem Vertrauen zu
den fo oft an mir erprobten Heilwirkungen des Brechweinsteins. Dieses
Mittel wirkte bei mir schon in der kleinen Gabe eines Gran (0,06 Zm)
sicher, rief ungemein reichliche Ausscheidungen hervor, riesige Ergüffe,
die, wie ich hoffte, zur Aufsaugung der ausgeschwitzten Flüssigkeit im
Wirbelkanale führen würden. So nahm ich denn dreimal in einer
Woche, je über den andern Tag, die Dosis von einem Gran nüchtern
und lebte an diesen Tagen nur von Waffersuppen. Die Wirkung auf
die Ausscheidungen war stets die gleiche mächtige, und von der Stunde
an, wo die dritte Dosis gewirkt hatte, war die Anwendung des Ka-
theters nicht mehr nötig und fchwanden die Krümpfe und Schmerzen,
während die Lähmnng der Beine sich weit langsamer verlor. Jch
konnte erst Mitte April das Bett verlassen und zu Anfang Mai mich
aus dem Haufe wagen. Viele Jahre hat es gedauert, bis ich mich von
der Lähmung ganz erholte.

Während ich im April noch das Bett hütete, Freund Schneider
war abgereist, trng sich ein Zwischenfall zu, der mir unvergeßlich bleibt.
Ein Bauer, der nicht wußte, daß ich erkrankt war, wollte mich zu
feinem Kinde holen. Er stand in den Vierzigen und bot ein präch-
tiges Bild männlicher Kraft. Jch wies ihn an meinen Kanderer Kol-
legen. Als er auf starken Beinen das Zimmer verließ, seufzte ich:
„Oh, daß ich meinen lahmen Leichnam gegen den kerngefunden Leib
dieses Bauern umtanfchen dürfte!" — Acht Tage nachher besuchte mich
mein Kollege und ich erkundigte mich nach dem Kinde. „Das Kind,"
erwiderte er, „ist rasch genesen, aber der Bauer tot." Entsetzt rief
ich: „unmöglich!" Dennoch war es fo, der fcheinbar kerngesunde Mann
war plötzlich gestorben. Seit diesem Erlebnis habe ich keinen Menschen
mehr nm seine blühende Gesnndheit beneidet.
 
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