Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
51

Darüber herrscht ja nun freilich unter wissenschaftlich denken-
den Menschen kein Zweifel, dass die Entwickelungslehre, mag sie
formuliert werden, wie sie wolle, sich immer nur auf die Ent-
wickelung eines schon Vorhandenen, auf die Weiterbildung schon
bestehender Formen beziehen kann, dass sie also die Entstehung
der letzteren selbst absolut nicht erklärt. So werden wir auch in
der Kunstwissenschaft den Punkt, wo der ästhetische Trieb in
die Lebewesen hineingekommen ist, niemals ermitteln können.
Aber das schliesst nicht aus, dass wir über die weitere Entwickelung
dieses Keimes ähnliche Hypothesen zu begründen versuchen, wie
sie in Bezug auf das körperliche Leben von den Zoologen all-
gemein angenommen werden. Natürlich wird man sich dabei immer
bewusst bleiben müssen, dass es sich hier nur um Hypothesen
handeln kann. Bei der grossen Unsicherheit aller dieser Fragen wird
der Ästhetiker eben nichts anderes thun können, als auszuführen, wie
sich unter Voraussetzung der Richtigkeit dieser oder jener Theorie
— sexuelle Zuchtwahl, Vererbung erworbener Eigenschaften, natür-
liche Auslese u. s. w. — die Entwickelung der Kunst aus dem Spiel
etwa erklären könnte. In diesem Sinne steht wohl nichts entgegen,
von einer „Ästhetik auf entwickelungsgeschichtlicher Grundlage“ zu
sprechen, zumal da ja auch die historischen Beweise, auf die wir
so viel Wert legen, in gewisser Weise als entwickelungsgeschicht-
liche bezeichnet werden können. Von einer Begründung der ganzen
Ästhetik auf die Descendenzlehre kann dabei natürlich nicht die
Rede sein.
Überhaupt will ich gern zugeben, dass sich vom erkenntnis-
theoretischen Standpunkt aus gegen jede der im vorigen auf-
gezählten Beweisgruppen — Selbstbeobachtung, Sprachgebrauch,
ästhetisches Experiment, Geschichte der Kunst, alte Kunsttheorie,
primitive Kunst, Spiel der Kinder und Tiere — manches einwenden
lässt. Völlig exakte Beweise sind bei keiner dieser Gruppen möglich.
Da es aber meines Wissens äusser in der Mathematik und einigen
wenigen Gebieten der Naturwissenschaft überhaupt keine völlig
exakten wissenschaftlichen Beweise giebt, so sehe ich diesem Ein-
wand mit grosser Ruhe entgegen. Man sucht eben in jeder Wissen-
schaft so weit zu kommen, wie man in ihr gemäss der Natur des
bis dahin vorliegenden Materials und der ihr zur Verfügung stehen-
den Beweismittel kommen kann. Ultra posse nemo obligatur. Ver-
werflich ist nur der Standpunkt des prinzipiellen non liquet, denn
er verdammt die Wissenschaft gerade in den wichtigsten Fragen

4
 
Annotationen