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wissenschaftlichen Zwecks, d. h. der Ergründung und Mitteilung
der Wahrheit, beim Romanschriftsteller tritt das exakte Studium
der Wirklichkeit und die Benutzung des Thatsächlichen in den
Dienst der Illusion. Damit ist alles gesagt.

FÜNFTES KAPITEL
DIE GEFÜHLS¬
UND STIMMUNGSILLUSION


US den Kritiken der „bewussten Selbsttäuschung“ habe ich

1 k ersehen, dass die meisten Ästhetiker jetzt gegenüber den nach-
ahmenden Künsten die Thatsache der Illusion zugeben. Wenn
sie aus dieser Thatsache auch nicht alle Konsequenzen ziehen,
die ich im vorigen Kapitel daraus gezogen habe, so erkennen sie
doch im allgemeinen an, dass wir uns Werken der Malerei und
Plastik, der Schauspielkunst, der dramatischen und epischen Poesie
gegenüber in eine Anschauungsillusion versetzen. Alle diese Künste
sind ja Nachahmungen oder, wie wir lieber gleich sagen wollen,
Darstellungen der Natur. Was sie schaffen, ist ein Scheinbild, ein
Ersatz für die Natur, bei dessen Wahrnehmung die Vorstellung
der Natur entsteht. Diese Vorstellung besteht darin, dass man
sich das Scheinbild in Wirklichkeit übersetzt. Eine solche Über-
setzung ist ein reiner Phantasieakt. Man sieht oder hört bei der
Wahrnehmung des Kunstwerks etwas Bestimmtes, denkt sich aber
darunter etwas anderes, als was man wahrnimmt.
Nicht ganz so einfach liegt die Sache bei der Lyrik und
Musik, beim Tanz, der Architektur und der dekorativen Kunst.
Hier kann man nach dem Urteil der meisten Kritiker nicht von
Illusion reden, da diese Künste ja keine Nachahmungen der Natur
sind. Die Formen, mit denen sie arbeiten, gebundene Sprache,
Rhythmus und Harmonie, Reim, dekorative Farbenzusammen-
stellung, Reihung, Symmetrie u. s. w. sind wenigstens zum grossen
 
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