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werde. Wie wenig geschieht in Storms Novellen, und wie tief
und gewaltig ist die Spannung, dv h. die Wirkung aufs Gefühl,
die sie ausüben! Darin besteht eben die Macht der Illusion, die
suggestive Kraft des grossen Dichters, dass er auch mit dem.
scheinbar unbedeutendsten Inhalt, wenn er uns nur an unserer
menschlichen Seite zu packen weiss, die grössten Wirkungen er-
zeugen kann. Wer sich durch wirklich gute Romane und Novellen
nicht in Illusion versetzen lässt, wer sich am Ende gar noch etwas
darauf einbildet, dass er bei der Lektüre gar keine Spannung
empfindet, vielmehr nur an die Schönheit der darin verkörperten
Weltanschauung, an die Richtigkeit der darin vorkommenden Sen-
tenzen, an den Rhythmus der Ereignisse, an die klangvolle Sprache
denkt, der hat nie in seinem Leben episch empfunden, der redet
wie der Blinde von der Farbe.
Jetzt wird uns auch klar sein, warum selbst die künstlerische
Schilderung historischer Ereignisse keine Kunst im eigentlichen
Sinne des Wortes ist. Nicht nur weil sie einen ausserhalb des Ge-
nusses liegenden — wissenschaftlichen — Zweck hat, es fehlt ihr
auch das Moment der Illusion. Allerdings kann auch der Historiker
spannend schildern, so dass seine Hörer oder Leser die Dinge
lebendig vor Augen zu sehen glauben. Und es mag im einzelnen
Falle nicht immer leicht sein, die Grenze zwischen einer historischen
Schilderung in künstlerischer Form und einem Roman mit histo-
rischer Grundlage zu ziehen. Mancher naturalistische Roman
nähert sich in seinen schildernden Teilen einer wissenschaftlichen
Kulturschilderung und manche historische Erzählung in der Schil-
derung und Aufdeckung der psychologischen Motive einem Roman.
Dennoch ist über das Prinzip der Unterscheidung kein Zweifel.
Der Unterschied ist in dem seelischen Erlebnis dessen zu suchen,
der das Werk liest. Der Historiker darf nur das beschreiben, was
sich wirklich oder wenigstens nach seiner Überzeugung wirklich
begeben hat, und was deshalb auch der Leser als Wirklichkeit hin-
nimmt. Der Romanschriftsteller ist im Gegenteil gerade deshalb
Künstler, weil er das schildert, was sich nie und nirgends begeben
hat, und was deshalb auch der Lesende nur als ästhetischen Schein
geniesst. Und er kann es geniessen, weil er das Gefühl hat, dass es
sich nach menschlichem Ermessen leicht begeben haben könnte,
weil es dem Wesen des Menschen entspricht. Beim Historiker
tritt die Illusion, d. h. die phantasiemässige Ergänzung und For-
mulierung des thatsächlich Nachweisbaren in den Dienst des
 
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