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wir mit den Personen leben, dass wir mit ihnen, auch wenn wir
ihr Thun nicht billigen, doch die grösste Sympathie haben, dass
wir das Echtmenschliche ihres Wesens herausfühlen. Mit fieber-
hafter Spannung verfolgen wir die Entwickelung ihrer Charaktere,
fortwährend fragen wir im Stillen: Wie wird sich ihr Leben ge-
stalten, ihr Charakter unter diesen oder jenen Umständen be-
währen, was werden sie unter diesen oder jenen Voraussetzungen
thun? Und hat der Dichter sie wahr und menschlich gezeichnet, so
folgen wir seiner Schilderung mit immer steigendem Interesse und
sagen schliesslich mit einem Gefühl der reinsten Freude: Ja, so
musste es kommen, das war es, was nach der bisherigen Ent-
wickelung eintreten musste, das ist wahr, echt, natürlich, menschlich,
überzeugend. Und dabei ist es ganz einerlei, ob die dargestellten
Ereignisse traurig oder lustig oder keines von beiden sind, ob die
beiden Helden „sich kriegen“ oder ins Wasser gehen.
Es giebt freilich Ästhetiker, die uns einreden möchten, auf
diese Spannung komme es in der Kunst gar nicht an. Sie sei
vielmehr ein niederes, gemeines Mittel, eine rohe Sensation,
kurz und gut eines grossen Dichters unwürdig. Wahrscheinlich
denken sie dabei an Kolportage- und Hintertreppenromane, aber
ihr ästhetisches Denken reicht nicht weit genug, um sich klar zu
machen, dass diese ja gerade nicht durch ihre innere psychologische
Wahrheit, sondern durch ihren aufregenden I n h a 11, durch krimi-
nalistische und sexuelle Motive wirken. Und wenn sie dieser
Sensationskunst Romane wie die Wahlverwandtschaften oder den
Grünen Heinrich oder die Kinder der Welt entgegenstellen, in
denen sich die „reife Weltanschauung grosser Dichter“ mit einer
„schönen, abgeklärten“ Form paare, in denen die „klangvolle
Sprache“ und der „Rhythmus der Ereignisse“ uns in eine höhere
Sphäre versetzten, so machen sie sich nicht klar, dass auch diese
Romane in ihrer Art spannen, und dass das, was an ihnen
künstlerisch ist, weder die Weltanschauung noch die Form, son-
dern die Kraft der Illusion ist, mit der der Dichter uns in
Spannung zu versetzen, die Menschen und Dinge illusionsmässig
zu schildern weiss.
Natürlich gehört es nicht zum Wesen der Spannung, dass sie
durch äussere Ereignisse, interessante Abenteuer, durch das Aktuelle
des Inhalts erzeugt wird: im Gegenteil der moderne Mensch will
aus Gründen, die ich schon erwähnt habe, dass die Spannung
vorzugsweise durch die innere psychologische Wahrheit erzeugt
 
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