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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0318

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296

Fünftes Buch.

Neue

Völker-

gruppen.

Verschie-

dene

Elemente.

Das

Christen-

thum.

Gegensatz
gegen die
Natur.

Entwicklung wiedergab. Der Zerfall des Karolingischen Reiches, die Schei-
dung in nationale Gruppen bezeichnet den Beginn des merkwürdigen Ent-
wicklungsprozesses, den wir als den eigentlich mittelalterlichen aufzufassen
haben.

Hier springt nun zunächst ein entscheidender Gegensatz gegen die bisher
betrachteten Culturepochen in’s Auge. Nur der Mohamedanismus bot eine ge-
wisse Verwandtschaft, jedoch auf einer niedrigeren, weil unfreieren Stufe. Wir
sehen nämlich eine Anzahl von Völkergruppen sich neben einander entfalten,
unterschieden durch Abstammung, Sprache und nationales Bewusstsein, viel-
fach in Gegensätze und Conflicte mit einander gerathend, dennoch an gemein-
samer Aufgabe, wie auf ein im Stillen gegebenes, allgemein anerkanntes Lo-
sungswort mit den edelsten Kräften arbeitend. Diese Aufgabe selbst war aber
von Allem, was vordem erstrebt wurde, nicht minder unterschieden.

Es war zum Theil ein Element innerer Wahlverwandtschaft, zum Theil
da's Uebergewicht einer höheren Cultur, vermöge dessen die germanische Welt
den Lehren des Christenthums sich fügte. Gleichwohl war der Prozess der
Umwandlung, der Verschmelzung des naturwüchsig nationalen Wesens mit
den aufgedrungenen Lebensanschauungen ein so langsam fortschreitender, dass
er streng genommen niemals zum völligen Abschluss kam, sondern der ganzen
mittelalterlichen Epoche mit den Zügen beständigen inneren Kampfes und
Ringens an der Stirn geschrieben steht. In allen Erscheinungen zeigt das
Leben jener Zeit das Bild gewaltiger Gegensätze, die, während sie einander
abstossen, sich doch zugleich aufs Innigste zu verbinden streben. In diesem
ewigen Suchen und Fliehen liegt der letzte Grund der Tiefe und Reichhaltig-
keit ihres Entwicklungsganges, liegt zugleich das Interesse, welches uns an
diese merkwürdige Epoche stets von Neuem fesselt. Während wir es bei den
Gestaltungen der antiken Welt mit einem in schönem Selbstgenügen ruhenden
Sein zu thun hatten, weht uns hier der Athemzug eines ewig wechselvollen,
rastlos nach Entwicklung ringenden Werdens an.

Bei den alten Völkern war die Religion ein naturgemässes Ergebniss,
gleichsam die feinste Blütlie des heimischen Bodens. Sie stand in vollem Ein-
klang mit der gesammten äusseren Existenz, wie mit dem inneren geistigen
Leben. Daher in allen Erscheinungen der antiken Welt jene harmonische
Ruhe, jene klare Geschlossenheit, die uns anblickt mit dem Lächeln seliger
Kindheit. Ganz anders im Mittelalter. Die nationalen Götter, verdrängt durch
den Gott des Christenthums, führen fortan nur als Gespenster und böse Geister
ein spukhaftes Dasein. Das Christenthum aber tritt sofort mit allen seinen
Forderungen feindlich gegen die Natur des Menschen auf. Es erklärt dieselbe
für sündhaft, verlangt eine geistige Wiedergeburt und verfolgt mit eiserner
Gonsequenz alle ihre unbewachten Aeusserungen. Indem es nun dem Menschen
das beständige Ankämpfen gegen jene natürlichen Eingebungen zur obersten
Pflicht macht, reisst es ihn gewaltsam aus der Naivetät seines ursprünglichen
Daseins heraus, erfüllt seine Seele mit dem Gefühl des Zwiespaltes und Wider-
streites und hebt sie auf die einsame Höhe einer ätherischen Vergeistigung.
Aber die Natur weicht nicht so leichten Kaufes aus ihrem angestammten Ge-
biete. Mag die christliche Lehre ihre Regungen als Einflüsterungen des Teufels
brandmarken, sie findet doch in dem Organismus des Menschen zu mächtige
Hebel, die sie fortwährend in Bewegung zu setzen nicht ermüdet. So entsteht
im einzelnen Individuum, so entstand in den Völkern des Mittelalters jener
gewaltige innere Widerstreit, jene tiefe Gährung, die durch alle Gestaltungen
 
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