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Lübke, Wilhelm
Geschichte der Architektur von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart — Leipzig, 1865

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https://doi.org/10.11588/diglit.26748#0485

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Drittes Kapitel. Gothischer Styl.

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widersprechender sein. Weit eher könnte man behaupten, dass die neue über-
wiegend bürgerliche Entwicklung von einer spirituelleren Religiosität erfüllt
gewesen sei, als vorher in den Zeiten vorwaltend hierarchischen Gepräges.

Es vollzog sich nur ein innerlich nothwendiges Gesetz der Entwicklung, dass
die Geistlichkeit, die fortan nicht mehr alleinige Trägerin der Bildung bleiben
konnte, nicht ferner mehr ausschliesslich dem Leben seinen Zuschnitt gab,
dass alle in der vorigen Epoche unter sorglicher Pflege der Kirche herange-
reiften Mächte des gesellschaftlichen Lebens in jugendlicher Rüstigkeit die
Schule verliessen und sofort dem Dasein einen neuen Inhalt, eine neue Gestalt
schufen.

Dies erscheint als der Grundgedanke, aus welchem eine Erklärung jener verbäitniss
überraschenden Thatsache eines zweiten völlig selbständigen Christ “ sehen Stvls
lich-mittelalterlichen Baustyles zu schöpfen ist. Nur dem frisch er-za”gcj1°™a'
wachten jungen Leben, das auf durchaus neuen Culturelementen ruhte, ver-
danken wir die Erzeugung der gothischen Architektur, die in besonderer Weise
die christliche Anschauung ausspricht, nachdem dieselbe vorher schon durch
den romanischen Styl in ebenso selbständiger Gestalt, wenn auch in verschie-
dener Auffassung, ausgeprägt worden war. Allerdings ist der gothische Styl
aus dem romanischen hervorgegangen, hat ihn zur wesentlichen, ja unentbehr-
lichen Voraussetzung, wie jener wiederum die Antike: aber er ist keineswegs
etwa, wie einseitige Verehrer uns einreden möchten, die nothwendige höchste
Bltithe seines Vorgängers. Es liesse sich vielmehr recht wohl denken, dass
das Mittelalter den romanischen Styl nicht zum gothischen System umgestaltet,
dass es in jenem sein volles Genügen gefunden hätte. Ist also der romanische
Styl allerdings die unerlässliche Voraussetzung des gothischen, so ist er darum
doch nicht minder für sich zum vollendeten künstlerischen Abschluss gekommen,
und hat sein Ideal mindestens eben so vollständig verwirklicht, wie der go-
thische Styl das seinige. Nur die constructiven Tendenzen, welche der
Romanismus angeschlagen hatte, boten der neuen Bauweise einen unmittel-
baren Anknüpfungspunkt dar, und erfuhren von ihr eine consequente höhere
und freiere Lösung. In dieser Beziehung verhalten sich die beiden mittelalter-
lichen Style zu einander ungefähr wie die beiden antiken Hauptstyle. Wie der
dorische Triglyphenfries dem Grundplan des Tempels etwas Gebundenes gab,
wovon der ununterbrochen fortlaufende ionische Fries ihn befreite — denn die
Anordnung der Triglyphen beherrschte die Stellung der Säulen zu einander,
und dadurch die Grundform des ganzen Tempels —, so war auch im romani-
schen Styl durch den Rundbogen die quadratische oder annähernd quadra-
tische Eintheilung der Planform vorgeschrieben, und erst der Spitzbogen konnte
eine freiere Anordnung des Grundrisses bewirken. Diese Tendenz hatte, wie
wir sahen, auch der Uebergangsstyl, und es fehlt nicht an bedeutenden Bau-
werken, an welchen dieselbe in consequenter Weise durchgeführt ist. Der
gothische Styl versuchte dieselbe Aufgabe von einer anderen Seite, und dies
ist, was er mit der Uebergangsarchitektur gemein hat.

Aber er verfolgte zugleich noch ein anderes Ideal, dessen Verwirklichung Grund-
ihn von allen früheren Bauweisen diametral unterscheidet. Er löste nämlich fes styis”
die strenge Mauerumgürtung, welche bei allen früheren Stylen den Innenraum
umschloss, und in deren künstlerischer Durchbildung sich der Geist der ver-
schiedenen Bausysteme offenbarte. Statt der Mauer ordnete er eine Anzahl
vereinzelter Pfeilermassen an, welche, nur durch dünne Fiillwände zum Theil
verbunden, den Rahmen für die ungewöhnlich grossen und weiten Fenster ab-
 
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