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DER BAUM ALS ARCHETYP

Die Natur ist die große, filr den Menschen erkennbare Einheit des Seins. Des Menschen
ratio vermag aber nicht das ganze Sein gleichzeitig zu erfassen, sondern immer nur Sei-
endes. So wird im menschlichen Glauben der Teil zum Sinnbild ftir das Ganze. Zu allen
Zeiten und in allen Erdteilen wurde die Welt als Manifestation göttlicher Gedanken auf-
gefaßt. Sonne, Wasser und Baum wurden zu Sinnbildern der schöpferischen Natur. Das
unsichtbare Urbild des Creators offenbart sich in dem sichtbaren Abbild der Schöpfung,
wodurch diese selbst mit ihren einzelnen Teilen zum Sinnbild wird (13). Wenn bei Völ-
kern, die noch ganz in den Rhythmus der Natur eingespannt sind, einzelne Naturgewalten
selbst als Götter verehrt werden, so darf das nicht so ohne weiteres als Naturgötzen-
dienst abgetan werden. In vielen Fällen wurde nachgewiesen, daß die Verehrung we -
niger dem sinnlichen Naturobjekt gilt als vielmehr einer hinter ihr stehenden, durch
sie nur symbolisierten Gottheit. Die Vegetation wird von Mircea Eliade als die "Offenba-
mng der lebendigen Realität" betrachtet. FUr den mit dem Strom des Lebendigen sich ver-
bunden fühlenden Menschen wird die bliihende und fruchttragende Natur zur Inkarnation
oder Offenbarung des Heiligen. "Ein Baum oder eine Pflanze ist niemals heilig als Baum
oder Pflanze; sie werden es durch ihre Teilhabe an einer transzendierenden Realität, sie
werden es, weil sie diese Realität bedeuten. Durch ihre Weihung wird die konkrete, pro-
fane Pflanzenart transsubstantiiert; nach der Dialektik des Sakralen gilt ein Stiick (ein
Baum, eine Pflanze) soviel wie das Ganze (der Kosmos, das Leben), wird ein profaner Ge-
genstand zur Hierophanie" (14).

Gerade der Baum erlangte in den verschiedensten Zeitaltern und bei den verschiedensten
Völkern die Bedeutung eines Symbols fllr die alles umfassende Natur - ein Symbol, das
archetypisch in der Menschheit verankert ist. Der von Augustinus aufgegriffene Ausdruck
Archetyp ist eine erklärende Umschreibung des platonischen eidos. Es ist das Kennzeichen
des Archetyps, daß seine bildhafte Ausprägung und seine Deutung nicht von der Außenwelt
Ubernommen, sondern von innen her induziert wurde. Der in dem Unbewußten wurzelnde
Archetyp sucht seine Verwirklichung innerhalb verschiedener Bereiche; so kann der Baum
eine wesentliche Rolle spielen in einem Traum oder Mythos, auf einem Gemälde, beim
kirchlichen Ritus oder auch beim Volksbrauch. Im Archetyp konzentriert sich das Sein in
einem "Bild", und jedes wirkliche Bild schwingt wieder auf das Sein zurück. Das im"Ur-
licht des Seins" aufleuchtende "Wesensbild” ist somit die "wirklichende sich erwirkende
Einheit, die gründend, bildend und herstellend zu sich selbst kommt und unauflösbar bei
sich verharrt" (15).

Die Kunst des zwanzigsten Jahrhundert versucht auf ihre Art das Archetypische sichtbarwer-
den zu lassen. Einer der eigenartigsten Maler ist der durch Sigmund Freuds Werke beein-
flußte Katalane Salvador Dali, der eine neue Methode der künstlerischen Schöpfung erar-
beitet und diese "activitö paranoiaque-critique" bezeichnet. Mit anderen Worten: Dalis
 
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