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HEILIGE LANDSCHAFT

"Aus der Natur, nach welcher Seite hin man schaue, entspringt Unendliches". Dieser Ge-
danhe Goethes (75) ist eigentlich uralt. Schon in der Steinzeit war ein nicht zu unterschät-
zendes religiöses Element der "stupor", das Erschauern vor einer im Absoluten verankerten
Wirklichkeit, die im Hintergrund aller relativen Erscheinungen steht. Wenn auch die na-
turmythologische Richtimg mit ihrem Hauptvertreter F. Max Müller die Bedeutung der Na-
turphänomene bei der Entstehung der Religionen Uberbewertet, so darf doch nicht iiberse-
hen werden, "daß Natur- und Himmelserscheinungen die schon primär im Primitiven lie-
gende religiöse Disposition zur Weiterbildung der Religion angeregt haben" (76). Warum
sollte der diluviale Höhlenbewohner von der Brandung des Meeres, von dem Aufblickzum
Firmament und von dem Rauschen des Waldes weniger beeindruckt werden als der moderne,
aber für die Aufnahme der Urwerte noch geöffnete Großstadtmensch? So wurden dasWasser,
die Gestirne und die Bäume dem Menschen zum sichtbaren Ausdruck unsichtbarer Mächte.
in dem Erscheinungsbild der organischen und anorganischen Natur einer bestimmten Gegend
kann der Mensch den Eingriff einer höheren Macht erspiiren. Der Ort der Hierophanien er-
weitert sich zur heiligen Landschaft. Wir erinnern an die Bedeutung des Berges Sinai im
Alten Testament, wo zu Moses gesprochen wird: "Tritt nicht heran. Ziehe die Schuhevon
den FUßen; denn die Stätte, darauf du stehst, ist heiliges Land" (2. Moses 3, 5). Zur heili-
gen Stätte kann jeder Ort werden, wo sich dem Menschen eine geheimnisvolle Macht of-
fenbart - besonders in Höhlen, auf Bergen, an Quellen und unter den Wipfeln vonBäumen.

Über einen engbegrenzten Raum hinaus kann aUe Natur unter dem Signum des Heiligen
stehen, sofern sie nicht aus der göttlichen Ordnung herausgerissen ist.

"Es freue sich der Himmel und frohlocke die Erde,

Aufrauschen soll das Meer und was darinnen ist.

Es freue sich die Flut und alles, was darauf ist;

Es sollen jauchzen alle Bäume der Wälder

Vor dem Angesichte des Herrn! " (Psalm 95)

Christus selbst hat immer wieder seine Gleichnisse dem Leben und Weben der Natur entnom-
men, so wenn er von den LUien auf dem Felde spricht oder wenn er das Wesen des verhei-
ßenen Himmelreiches an dem Senfkom veranschaulicht, das zu einem mächtigen Baum
emporwächst. Wesentlich ist nun, ob man die heilige Landschaft in der wahrgenommenen
Natur erahnt, oder sie sich rein geistig, als Abstraktion vorstellt. So steht der erschauten
heiligen Landschaft die erträumte gegeüber, wobei in der kiinstlerischen Manifestationdie
beiden nicht immer voneinander getrennt werden können. Strzygowski meint in seiner aller-
dings einseitig auf die "nordisch" geprägten Indogermanen ausgerichteten Betrachtungsweise:
"Fiir uns Menschen von heute ist Landschaft in der Bildenden Kunst das Abbild einesStiik-
kes Natur. Wir ahnen gar nicht, daß Landschaft ursprünglich Ausdruck der tiefsten Glau-
benssehnsucht war und die Bildende Kunst darin nur veranschaulicht, was in Wirklichkeit
nicht zu sehen war: eine Welt, die der Mensch in seinem innersten Kern aufrichtete, um
 
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