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Bauerochse, Andreas [Editor]; Haßmann, Henning [Editor]; Püschel, Klaus [Editor]
"Moora" - Das Mädchen aus dem Uchter Moor: eine Moorleiche der Eisenzeit aus Niedersachsen (Band 37): "Moora" - das Mädchen aus dem Uchter Moor — Rahden/​Westf.: Verlag Marie Leidorf, 2008

DOI article:
Schmidt-Häuer, Christian: Die Tote im Moor
DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.69460#0036
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Die Tote im Moor

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torft, um Humus für die Gärten zu erhalten. Zer-
stückelt von den Stechmaschinen, finden die nicht
mehr entdeckten Moorleichen ihre neuen Gräber
unter den Rhododendren der Zierlandschaften.
Dieser Raubbau nimmt den Menschen Teile ihrer
Vorgeschichte. Die meisten historischen Moorlei-
chen wurden im 18. und 19. Jahrhundert ausge-
graben, vor der Technisierung der Land- und Torf-
wirtschaft. So verweist der Jubel über das Mäd-
chen von Uchte zugleich auf die Paradoxie des
Erfindergeistes. Denn auf der anderen Seite hat es
nie zuvor die Chance gegeben, mit so modernen
radiologischen und röntgenologischen Verfahren
durch einen neuen Fund aus dem Moor in eine
versunkene Zeit zu blicken.
Was verrät Moora über ihre Welt sechs oder
sieben Jahrhunderte vor Christi Geburt? Hart
muss ihr kurzes Leben gewesen sein. Kindheit
und Jugend waren schweren Stressphasen ausge-
setzt. Die Ursache war wahrscheinlich Hunger;
möglich, dass schwere Infektionen hinzukamen.
Die Enden ihrer Schienbeine weisen elf Wachs-
tumsstillstand-Linien auf. Diese so genannten
Harris-Linien bilden sich bei Heranwachsenden
durch Störungen des Längenwachstums in den
Röhrenknochen. Sie sind Belege für überstande-
ne Entzündungen oder Nahrungsmangel. Über
die Ernährung des Mädchens erhoffen sich die
Wissenschaftler Erkenntnisse, die wiederum Rück-
schlüsse auf seine Umwelt zulassen könnten. Gab
es nur Wälder oder auch Felder? Wie ausgedehnt
waren Ackerbau oder Beweidung? Welche In-
haltsstoffe hatte das Wasser, das „Moora“ trank?
Eine Isotopenanalyse der Zähne kann darüber
Auskunft geben. Gab es in diesem Raum schon
Verhüttung - so wie in Baden-Württemberg, wo
kürzlich ein frühkeltischer Schmiedeplatz mit
Amboss und Esse aus jener Zeit entdeckt worden
ist? Belasteten das Moormädchen bereits Schad-
stoffe? Die Isotopenanalyse der Haarreste am
Hirnschädel könnte das beantworten.
Was aber führte Moora in den Sumpf? Flüch-
tete sie vor einer Gefahr? Verlief sie sich beim
Kräutersammeln? Brach sie während des Win-
ters im Eis ein? Die gängigen Spekulationen des
Boulevard - dass sie ermordet, für ein Verbrechen
bestraft oder den Göttern geopfert wurde - haben
bisher keine Bestätigung gefunden. Die skelettbi-
ologischen Untersuchungen in fünf Instituten der
HamburgerUniversitätsklinikergabenkeine Spu-
ren von Gewaltanwendung. Wenn in den Hautres-
ten nicht noch Verletzungen von Stichen in die
Weichteile entdeckt werden, hat Moora offenbar
einen anderen Tod gefunden als viele der bisher
bekannten Moorleichen. Nicht wenige dieser
Funde weisen durchschnittene oder strangulier-

te Hälse, eingeschlagene Schädel, Messerstiche
und zerschmetterte Glieder auf. Das 1897 von
Moorarbeitern in den Niederlanden gefundene,
ebenfalls etwa 16 Jahre alte Mädchen von Yde
aus der Zeit um Christi Geburt war mit einer
Wollschlinge erwürgt worden. Der rote Franz -
so genannt nach seinen feurigen, vom Moor
gefärbten Haaren -, den Torfstecher hundert Jah-
re vor „Moora“ bei Hannover fanden, verlor sein
Leben durch einen Kehlschnitt.
Diese beiden legendären Moorleichen hat Mo-
nika Lehmann in den vergangenen Jahren gerei-
nigt und konserviert. Jetzt sitzt die Restauratorin,
die aus der Nähe von Uchte stammt, im gelben
Backsteingebäude der hannoverschen Denkmal-
pfleger und wiegt im Souterrain zwischen Compu-
tern, Mikroskopen und Röntgengeräten schwarz-
braune Hautfetzen ab. Größere, verschrumpelte
Hautfragmente faltet sie in minutiöser Kleinar-
beit zurück. All das ist Mooras Haut. Die Leiterin
der archäologischen Restaurierungswerkstätten
des Niedersächsischen Landesamtes für Denk-
malpflege ist so etwas wie ihre Leibwächterin.
Sie sorgt dafür, dass der Fund nach seiner Irr-
fahrt nicht noch weitere Schäden erleidet. Die
Schutzbefohlene macht es Monika Lehmann
nicht leicht. Moora ist zum Star geworden. Archä-
ologie in den Zeiten knapper Fördermittel muss
sich zeigen. Das Skelett so schwarz wie Eben-
holz, aufgebahrt in einer Art gläsernem Sarg mit
rot leuchtendem Grund, hat das Moormädchen
im Jahre 2006 in der Ausstellung „Klima und
Mensch“ im Westfälischen Landesmuseum Herne
für Aufsehen gesorgt - zwischen Mammuts und
Neandertalern. Auch zum Weltkongress für
Rechtsmedizin in Hamburg ist sie gefahren.
Nach jeder Reise ist ein Check-up bei der Res-
tauratorin in Hannover fällig.
In etwa zwei Jahren wollen die Wissenschaft-
ler dem 2.650 Jahre alten Mädchen ihre Gestalt
zurückgegeben haben. Die digitalen Bilddaten
aus den vielen Untersuchungen werden am Ham-
burger Institut für medizinische Informatik für
die Rekonstruktion des Schädels ausgewertet.
Rechtsmediziner Püschel, dessen Forschungen
halfen, den mutmaßlichen Schädel des seeräube-
rischen Hamburger Lokalmatadors Klaus Stör-
tebeker nachzubilden: „Das ganze Skelett wird
am Computer zusammengefügt und dann in Plas-
tik gegossen. Gesichtsausdruck, Haut, die Farbe
der Augen bleiben der Phantasie überlassen. Auch
die Haarfarbe gibt das Erbgut nicht mehr her.“
Gleichviel, zu einem Mädchen aus dem Moor
passt das zweite Gesicht ohnehin.
 
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