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Deutscher Altphilologenverband [Hrsg.]
Mitteilungsblatt des Deutschen Altphilologenverbandes — 1.1958

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Nr. 2 / 3
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Haag, Erich: Und noch einmal die Rolle des Lateins am Neusprachlichen Gymnasium
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https://doi.org/10.11588/diglit.32956#0025
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Und noch einmal die Rolle des Lateins am Neusprachlichen

Gymnasium"'

DEUTSCHER ALTPHILOLOGENVERBAND • DER 1. VORSITZENDE

TÜBINGEN

Herrn Richard Schade, 4. Oktober 1956

Erstem Vorsitzenden des Allgemeinen
Deutschen Neuphilologenverbandes

Sehr verehrter Herr Kollege!

Ich habe Ihnen sehr zu danken für Ihren ausführlichen und freimiitigen Brief vom
30. August 1956, in dem Sie unter kritischer Bezugnahme auf meinen Bericht iiber die
Jahresversammlung des Deutschen Altphilologenverbandes im Juli-Heft der „Höheren
Schule“ mir Ihre Gedanken zum Sprachenaufbau des neusprachlichen Gymnasiums aus-
führlich vorgetragen haben. 'Wenn ich Ihnen nicht früher geantwortet habe, so ist es
deshalb, weil eine übermäßige berufliche und außerberufliche Beanspruchung in den
letzten vier Wochen mir ein nachdenkliches Eingehen auf Ihren Brief unmöglich machte.

Zuerst bitte ich Sie, mir zu glauben, wenn ich Ihnen versichere, daß nicht fachliche
Verblendung und egoistische Pleonexie ::' ::‘ uns Altsprachler zu einer kritischen Betrach-
tung der Berliner Entschließung des ADNV nötigen. Es geht hier um die Sache der
deutschen höheren Bildung, und da scheiden persönliche Riicksichten oder gar Interessen
aus. Ich habe sogar schon den Gedanken erwogen, die Dinge einfach laufen zu lassen
und darauf zu vertrauen, daß die Wirklichkeit, d. h. die tatsächlich erreichte oder nicht
erreichte Bildungswirkung, ihr unüberhörbares Urteil spreche; aber in dem Amte, das
uns anvertraut ist, „ist Versuchen Freveltat . . . du darfst nur tun, wenn du im Tiefsten
glaubst, du weißt“. Darum muß ich sprechen!

Ich bejahe die Idee eines neusprachlichen Gymnasiums durchaus; ich habe dariiber
in der FAZ vom 6. Januar 1955 geschrieben und habe diese Schulform geradezu als den
Typus des „europäischen Gymnasiums“ bezeichnet. Aber sowohl als „europäisches Gym-
nasium" wie auch als Einrichtung deutscher höherer Bildung bedarf diese Schule eines
grundlegenden Unterrichts in lateinischer Sprache und römischem Geiste.

Es wird ja heute niemand leugnen können, daß das Fundament einer europäischen
Gemeinsamkeit der christliche Gedanke und das in lateinischer Form dem Abendland
überlieferte Welt- und Menschenverständnis der Antike bilden. Die Leistungen der
römischen und germanischen Völker in Mittelalter und Neuzeit sind Besonderungen
dieses gemeinsamen Erbes, höchst wertvolle und unersetzliche Weiterbildungen natio-
naler Art. Wer aber heute eine tragende Bildungsgrundlage deutscher und europäischer
Art schaffen will, darf darum eben nicht von den Besonderungen, sondern muß von
dem Gemeinsamen dieser Tradition ausgehen. Diese grundsätzliche Erkenntnis wird
ja von der geschichtlichen Abfolge bestätigt: in der Sprachenfolge Latein, Englisch,
Französisch folgen wir dem Lauf der Geschichte, d. h. der Faktizität des Gewesenen.
Und wenn man, aus welchen Gründen auch immer, das Englische glaubt an den Anfang

*) Abdruck aus „Mitteilungsblatt des Allgemeincn Deutschen Neuphilologenverbandes“, 1957, Heft 1.
: ) Anmerkung für Nicht-Humanisten: Pleonexie = Anmaßung, Hochmut.

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