von Antigone und Kreon sind großes Theater mit raffinierten formalen Effek-
ten. . . . Was also am antiken Theater heute noch fasziniert, ist nicht das spe-
ziell Antike, sondern das allgemein Theatralische. . . . Dann befrage man irgend
einen treuen Abonnenten, warum er appaudiert. . . . das moralische Mißver-
ständnis, das sich an der Haltung Antigones begeistert, ist für das heutige
lebendige Theater wesentlicher als das philologische Verständnis, das dem Kreon
mehr Gerechtigkeit widerfahren läßt. . . . Brecht und Anouilh, obwohl sicher-
lich geringere Potenzen, wirken Kraft ihrer Zeitgenossenschaft tiefer. . . . Kurz:
wozu sollen wir uns auf der Biihne noch mit der Antike beschäftigen? Um sie
nach erlauchten Vorbildern auf unsere eigene Weise griindlich mißzuverste'hen!“
-- So Georg Hensel.
Eine andere Stimme: (G. Seuren) „Zu einem refugium peccatorum, einer
Zufluchtsstätte fiir erholungsbedürftige Humanisten . . . ist der klassische Helle-
nismus des V. Jhs. denkbar ungeeignet. . . . dann haben wir allen Grund, die
Kiassik nicht abzustauben.“
Kritisch auch Reinhold Lindemann, der nach Vietta ein Humanist alter
Schule ist, und hier in verkehrter Front den vorwärtsgerichteten Geist gegen
die Miesmacher des technischen Zeitalters vertritt: „Wer sich in einer durch-
technisierten Welt unter dem unerläßlichen Verzicht auf hochindividuelle Ini-
tiative und kostbar differenzierte Persönlichkeitsnuancen, einer allgemein-ver-
bindlichen menschlichen Norm, einer strengen Ordnung der Solidarität dem
V/erk wie dem Arbeitsnachbarn gegenüber zu fügen hat, mit der aile Sonder-
ansprüche notwendig nivellierenden Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die For-
meln stimmen und die Apparate funktionieren, der wird am Ende vielleicht
. . . eine heilsame Einebnung der Gedanken und Gefühle, vor allem der Selbst-
einschätzung erfahren, zu einer gesunden Selbstbescheidung des Menschlichen
kommen (auf gut griechisch: zur Sophrosyne), auch im Verkehr mit anderen.
Wozu dann noch — Einwurf der Jugend — antikes Bildungserlebnis beschwören,
verschollene Vlythologie auskramen, den Ursprüngen unseres wissenschafilich-
technischen Verhältnisses zur Welt mit einem Eifer nachspüren, als ob davon
das Heil dieser unserer Welt abhinge? Sie geht weiter ihren vorgezeichneten
Weg - mit und ohne Humanismus. . . . Von Verarmung, Verkümmerung, Ent-
würdigung des Menschen an der Klagemauer des aufgestapelten abendländi-
schen Bildungshumanismus zu jammern — dieses „Geschäft“ überlassen wir ge-
trost den bezahlten und unbezahlten Miesmachern der Zeit. Ob dieser herauf-
kommende neue abendländische Mensch, dessen erste Gehversuche wir heute
erleben, eines Tages auch kulturstiftend sein wird . . . ist mir jedenfalls völlig
gleichgültig. Hauptsache ist, daß er Mensch sein wird, Mensch bleiben wird.
. . . Vielleicht sollte man beide (die stürmischen Jungen wie die Alten) daran
erinnern, daß der Grieche, wenn er von Menschen sprach, durchaus nichts Feier-
liches (Autonomes), besonders Würdiges dabei im Sinne hatte . . . nicht daran
dachte, dem Humanen eine eigene Hoheit zuzusprechen . . .“
Die besonnene Stimme eines Kandidaten der Philologie hält Seuren (s. o.)
entgegen: „Seuren hält die Antike für überwunden, weil der Mann an der
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ten. . . . Was also am antiken Theater heute noch fasziniert, ist nicht das spe-
ziell Antike, sondern das allgemein Theatralische. . . . Dann befrage man irgend
einen treuen Abonnenten, warum er appaudiert. . . . das moralische Mißver-
ständnis, das sich an der Haltung Antigones begeistert, ist für das heutige
lebendige Theater wesentlicher als das philologische Verständnis, das dem Kreon
mehr Gerechtigkeit widerfahren läßt. . . . Brecht und Anouilh, obwohl sicher-
lich geringere Potenzen, wirken Kraft ihrer Zeitgenossenschaft tiefer. . . . Kurz:
wozu sollen wir uns auf der Biihne noch mit der Antike beschäftigen? Um sie
nach erlauchten Vorbildern auf unsere eigene Weise griindlich mißzuverste'hen!“
-- So Georg Hensel.
Eine andere Stimme: (G. Seuren) „Zu einem refugium peccatorum, einer
Zufluchtsstätte fiir erholungsbedürftige Humanisten . . . ist der klassische Helle-
nismus des V. Jhs. denkbar ungeeignet. . . . dann haben wir allen Grund, die
Kiassik nicht abzustauben.“
Kritisch auch Reinhold Lindemann, der nach Vietta ein Humanist alter
Schule ist, und hier in verkehrter Front den vorwärtsgerichteten Geist gegen
die Miesmacher des technischen Zeitalters vertritt: „Wer sich in einer durch-
technisierten Welt unter dem unerläßlichen Verzicht auf hochindividuelle Ini-
tiative und kostbar differenzierte Persönlichkeitsnuancen, einer allgemein-ver-
bindlichen menschlichen Norm, einer strengen Ordnung der Solidarität dem
V/erk wie dem Arbeitsnachbarn gegenüber zu fügen hat, mit der aile Sonder-
ansprüche notwendig nivellierenden Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die For-
meln stimmen und die Apparate funktionieren, der wird am Ende vielleicht
. . . eine heilsame Einebnung der Gedanken und Gefühle, vor allem der Selbst-
einschätzung erfahren, zu einer gesunden Selbstbescheidung des Menschlichen
kommen (auf gut griechisch: zur Sophrosyne), auch im Verkehr mit anderen.
Wozu dann noch — Einwurf der Jugend — antikes Bildungserlebnis beschwören,
verschollene Vlythologie auskramen, den Ursprüngen unseres wissenschafilich-
technischen Verhältnisses zur Welt mit einem Eifer nachspüren, als ob davon
das Heil dieser unserer Welt abhinge? Sie geht weiter ihren vorgezeichneten
Weg - mit und ohne Humanismus. . . . Von Verarmung, Verkümmerung, Ent-
würdigung des Menschen an der Klagemauer des aufgestapelten abendländi-
schen Bildungshumanismus zu jammern — dieses „Geschäft“ überlassen wir ge-
trost den bezahlten und unbezahlten Miesmachern der Zeit. Ob dieser herauf-
kommende neue abendländische Mensch, dessen erste Gehversuche wir heute
erleben, eines Tages auch kulturstiftend sein wird . . . ist mir jedenfalls völlig
gleichgültig. Hauptsache ist, daß er Mensch sein wird, Mensch bleiben wird.
. . . Vielleicht sollte man beide (die stürmischen Jungen wie die Alten) daran
erinnern, daß der Grieche, wenn er von Menschen sprach, durchaus nichts Feier-
liches (Autonomes), besonders Würdiges dabei im Sinne hatte . . . nicht daran
dachte, dem Humanen eine eigene Hoheit zuzusprechen . . .“
Die besonnene Stimme eines Kandidaten der Philologie hält Seuren (s. o.)
entgegen: „Seuren hält die Antike für überwunden, weil der Mann an der
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