Die Hirsauer Kunst ist das Spiegelbild des allgemeinen Hirsauer Geistes. Dieser hat
zwei scheinbar unvereinbare Seiten, er verbindet äußeren Gesetzeszwang mit innerer Er-
griffenheit, Rationales mit Irrationalem. Erst durch das Zusammenwirken dieser beiden
Faktoren erhält das hirsauische Münster sein neuartiges Gepräge. Wie die äußere Form-
gebung die noch mehr unbekümmerte Bewegungsfreiheit des Frühromanismus straffster Zucht
und Regelrichtigkeit unterwirft und den in Maß und Proportion liegenden Schönheitswert
entfaltet, so vertieft und erhöht sich der seelische Gehalt des Gotteshauses zu heiligem
Ernst und andachtvoller Erhabenheit. Wer wollte z. B. in der Kirche zu Alpirsbach diese
Synthese von Gesetzlichkeit und religiösem Enthusiasmus verkennen?
Die möglichst weitgehende Übereinstimmung mit Kluni in Gottesdienst und Hausordnung
hatte zur Voraussetzung die Gleichheit der Anlage der Kirche und des Klosters. Die Gunst der
literarischen Überlieferung, die uns mehrere Fassungen der kluniazensischen Gewohnheiten,
darunter die aus Farfa mit genauen Angaben über die Lage und Abmessungen der Gebäulich-
keiten, aufbewahrt hat, setzt uns in den Stand, einen in den wichtigsten Stücken gesicherten
Plan des kluniazensischen Münster- und Klostertypus nachzuzeichnen (Abb. 4) und die Ver-
wendung der einzelnen Räume zu bestimmen*). Da Wilhelm für seine Neubauten diese Grund-
form fast unverändert übernahm, ist sie, ehe wir einzelne Hirsauer Klöster besprechen, kurz
zu erläutern.
Das vollentwickelte kluniazensische Münsters (siehe auch Abb. 5) ist eine flach-
gedeckte Säulenbasilika in der Gestalt des lateinischen Kreuzes mit östlichem Querschiff;
Westchor und Krypta fehlen. Das östlich vom Querschiff liegende Altarhaus (presb^terium)
ist von Seitenkapellen eingerahmt, die in der modernen Literatur nicht ganz zutreffend
„Nebenchöre" genannt werden. Im Westen dehnt sich vor der Kirche ein Vorhof (vestibulum)
aus, an dessen vorderem Eingang ein Turmpaar mit dazwischenliegender Vorhalle 0 sich
erhebt. Der dem Lang- und Querhaus gemeinsame Teil, die Vierung, diente als „großer
Chor" (cüorus maior), hier stand das Gestühl dec zum Psalmengesang in der zweiten Hälfte
der Nacht und siebenmal bei Tag versammelten Mönche, genauer gesagt der chordienstfähigen
Sänger; denn die den gottesdienstlichen und gesanglichen Anforderungen gesundheitlich nicht
gewachsenen Mönche hatten ihren Platz im „kleinen Chor" (eborus minor), der westlich vom
großen lag und sich mit dem ersten Mittelschiffjoch des Langhauses deckte. Die Konverserü)
(conversi oder illiterati), d. h. diejenigen Mönche, denen die zum Psalmengesang nötige Bil-
dung fehlte, waren, wenn der Platz im Chor nicht reichte, in die Querflügel verwiesen. Über
der Vierung hingen in einem Turm oder Gerüst die für den Kultus wichtigen Glocken.
Die Nebenchöre (Seitenkapellen) sind das interessanteste Stück des ganzen Münsters.
Sie geben zusammen mit dem zwischen ihnen liegenden Presbyterium den Ostteilen der Kirche
1) Siehe meine ausführliche Darstellung „die zweite Kirche in Kluni" usw. Darnach Dehio, Gesch. d. d. K. I,
S. 105 f.
2) Die 1089 begonnene neue Kirche in Kluni kam für Wilhelm noch nicht in Betracht, seine Lon8titutiones
setzen das alte, 981 geweihte Münster und verwandte Kirchen voraus.
s) Es ist zu unterscheiden zwischen dem Vorhof (Vestibuium oder daliloa) und der Vorhalle.
4 Die Konversen der Kluniazenser und Hirsauer sind Mönche, erst bei den Zisterziensern hat das Wort die
Bedeutung Laienbrüder.
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zwei scheinbar unvereinbare Seiten, er verbindet äußeren Gesetzeszwang mit innerer Er-
griffenheit, Rationales mit Irrationalem. Erst durch das Zusammenwirken dieser beiden
Faktoren erhält das hirsauische Münster sein neuartiges Gepräge. Wie die äußere Form-
gebung die noch mehr unbekümmerte Bewegungsfreiheit des Frühromanismus straffster Zucht
und Regelrichtigkeit unterwirft und den in Maß und Proportion liegenden Schönheitswert
entfaltet, so vertieft und erhöht sich der seelische Gehalt des Gotteshauses zu heiligem
Ernst und andachtvoller Erhabenheit. Wer wollte z. B. in der Kirche zu Alpirsbach diese
Synthese von Gesetzlichkeit und religiösem Enthusiasmus verkennen?
Die möglichst weitgehende Übereinstimmung mit Kluni in Gottesdienst und Hausordnung
hatte zur Voraussetzung die Gleichheit der Anlage der Kirche und des Klosters. Die Gunst der
literarischen Überlieferung, die uns mehrere Fassungen der kluniazensischen Gewohnheiten,
darunter die aus Farfa mit genauen Angaben über die Lage und Abmessungen der Gebäulich-
keiten, aufbewahrt hat, setzt uns in den Stand, einen in den wichtigsten Stücken gesicherten
Plan des kluniazensischen Münster- und Klostertypus nachzuzeichnen (Abb. 4) und die Ver-
wendung der einzelnen Räume zu bestimmen*). Da Wilhelm für seine Neubauten diese Grund-
form fast unverändert übernahm, ist sie, ehe wir einzelne Hirsauer Klöster besprechen, kurz
zu erläutern.
Das vollentwickelte kluniazensische Münsters (siehe auch Abb. 5) ist eine flach-
gedeckte Säulenbasilika in der Gestalt des lateinischen Kreuzes mit östlichem Querschiff;
Westchor und Krypta fehlen. Das östlich vom Querschiff liegende Altarhaus (presb^terium)
ist von Seitenkapellen eingerahmt, die in der modernen Literatur nicht ganz zutreffend
„Nebenchöre" genannt werden. Im Westen dehnt sich vor der Kirche ein Vorhof (vestibulum)
aus, an dessen vorderem Eingang ein Turmpaar mit dazwischenliegender Vorhalle 0 sich
erhebt. Der dem Lang- und Querhaus gemeinsame Teil, die Vierung, diente als „großer
Chor" (cüorus maior), hier stand das Gestühl dec zum Psalmengesang in der zweiten Hälfte
der Nacht und siebenmal bei Tag versammelten Mönche, genauer gesagt der chordienstfähigen
Sänger; denn die den gottesdienstlichen und gesanglichen Anforderungen gesundheitlich nicht
gewachsenen Mönche hatten ihren Platz im „kleinen Chor" (eborus minor), der westlich vom
großen lag und sich mit dem ersten Mittelschiffjoch des Langhauses deckte. Die Konverserü)
(conversi oder illiterati), d. h. diejenigen Mönche, denen die zum Psalmengesang nötige Bil-
dung fehlte, waren, wenn der Platz im Chor nicht reichte, in die Querflügel verwiesen. Über
der Vierung hingen in einem Turm oder Gerüst die für den Kultus wichtigen Glocken.
Die Nebenchöre (Seitenkapellen) sind das interessanteste Stück des ganzen Münsters.
Sie geben zusammen mit dem zwischen ihnen liegenden Presbyterium den Ostteilen der Kirche
1) Siehe meine ausführliche Darstellung „die zweite Kirche in Kluni" usw. Darnach Dehio, Gesch. d. d. K. I,
S. 105 f.
2) Die 1089 begonnene neue Kirche in Kluni kam für Wilhelm noch nicht in Betracht, seine Lon8titutiones
setzen das alte, 981 geweihte Münster und verwandte Kirchen voraus.
s) Es ist zu unterscheiden zwischen dem Vorhof (Vestibuium oder daliloa) und der Vorhalle.
4 Die Konversen der Kluniazenser und Hirsauer sind Mönche, erst bei den Zisterziensern hat das Wort die
Bedeutung Laienbrüder.
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