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auf deutschem Boden das erhabenste und zugleich menschlichste Denkmal wurde, welches die
Reformbewegung geschaffen hat.
Genau 600 Jahre nach der Weihe wurde das Münster samt dem Kloster im Jahr 1692
durch die Roheit der Raubscharen Ludwigs XIV. unter Melac eingeäschert. Zum Glück
hat sich der nördliche der beiden Westtürme, der sog. Eulenturm, unversehrt erhalten
(Abb. 9). In der Bauform an römische Kampanilen erinnernd, mit noch nicht sicher ge-
deuteten phantastischen Relieffiguren von ungeübten einheimischen Händen geschmückt, in der
unteren Hälfte durch Mauerbänder und Blenden belebt, oben in Klangarkaden sich öffnend,
baut er sich in sechs Stockwerken zu imposanter Höhe auf, ein auch ohne den bis auf einen
Stumpf zerstörten Partner heute noch höchst eindrucksvolles Werk.
Das zu dem neuen Münster gehörende Kloster konnte schon 1092 bezogen werden. Bei
seiner Anlage und Einteilung wurde, wie sich noch nachweisen läßt, die Übereinstimmung
mit Kluni genau gewahrt Z.
Die kluniazensisch-hirsauische Klosteranlage
über die Entwicklung der abendländischen Klostecanlage sind wir vom karolingischen Zeit-
alter an ungewöhnlich gut unterrichtet, für dieFcühzeit durch literarische Duellen, vom 12. Jahr-
hundert ab auch durch die Denkmäler. Der berühmte Bauriß von St. Gallen?) stellt einen
schematisch gezeichneten, mit wertvollen Beischriften versehenen Musterplan des vollständigen
Benediktinerklosters dar, wie es aus der Reformtätigkeit Benedikts von Aniane, des Be-
raters Ludwigs des Frommen, am Anfang des 9. Jahrhunderts hervorgegangen war. Von
der Stufe, die der Typus 200 Jahre später bei den Kluniazensern erreicht hatte und mit
dem wir es jetzt zu tun haben, gibt Abb. 4 ein in allen wesentlichen Stücken gesichertes
Bild. Die nächste Stufe, die 100 Jahre darauf durch das Zisterzienserkloster repräsentiert
wird, tritt uns noch leibhaftig entgegen in den wohlerhaltenen Klöstern Maulbronn und
Bebenhausen.
Die Grundform, die der Riß von St. Gallen (Abbildungen finden sich in allen besseren
Handbüchern der Kunstgeschichte) zeigt, ist nie mehr geändert worden; es ist im Gegensatz
zur orientalischen Laurenanlage der sog. klaustrale Typ, der die Hauptgebäude, also die
Kirche, die Wohn- und Schlafcäume der Mönche nebst dem Vorratskeller, zu einem
Viereck zusammenlegt und um einen vom Kreuzgang (clarmtrum) umzogenen kleinen Jnnenhof
(Kreuzgärtchen) anordnet. Dieser Komplex, in dem die Mönche in Klausur leben, das Kloster
im engeren Sinn, ist auf allen Seiten umgeben von Gebäuden, die erforderlich sind, um
der geistlichen Ansiedlung die für ihre höhere Aufgabe nötige Unabhängigkeit von der Welt
zu gewährleisten. So liegen auf dem Riß im Westen (der „Welt" zu) die Scheuern und
Ställe, im Süden die Mühle, der Speicher, das Handwerkechaus, im Norden das Gäste-
haus, die äußere Schule und die Abtswohnung, im Osten zu Seiten einer zweiten, kleineren
Kirche das Krankenhaus samt der Wohnung des Arztes und das Haus der Novizen. Das
0 Wie und wo Wilhelm die Laienbrüder unterbrachte, wissen wir nicht. Die spätere Einrichtung des
Petersklosters darf nicht ohne weiteres in das 11. Jahrhundert zurückdatiert werden.
2) Ferd. Keller, Der Bauriß von St. Gallen, Zürich 1844.
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