Die bauliche Decoration.
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ist dieses Thema bisher nirgends eingehend und im Zusammenhang behandelt worden. *)
Auch nach Mafsgabe der ausführlichsten Baugeschichte des Domes, der Acten der Bau-
hütte selbst, scheint es im ganzen erst im zweiter Linie gestanden zu haben. Fragen der
Construction sind es meist, welche die Bauleute beunruhigen, welche sie veranlassen,
sich Rath aus der Fremde zu holen, und den Streit der Meinungen dann mit doppelter
Schärfe entfachen. Aber wie die hierauf bezüglichen Erörterungen und Concurrenzen, so
werden in den Acten in kaum übersehbarer Fülle auch diejenigen verzeichnet, welche den
Schmuckformen gewidmet sind. Vielfach wird über constructive und decorative Durch-
bildung der einzelnen Bautheilc gleichzeitig entschieden, und zahlreiche, meist weniger
bekannt gewordene Künstlernamen gehören lediglich der Geschichte der Decoration an.
Und mehr noch, als die Documente, hätten die Monumente selbst zu einer eingehenden
Behandlung dieses Themas locken müssen, denn sie bieten demjenigen, der sich die frei-
lich grofse Mühe ihres Detailstudiums nicht verdriefsen läfst, einen hohen Gewinn: sie ent-
rollen allgemeingültig ein überraschend reiches, ungemein anziehendes Bild mittelalterlicher
Kunst, und bieten in sich gleichsam eine Geschichte der decorativen Plastik der Lombardei.
Allerdings zeigt dasselbe noch keineswegs in allen seinen Theilen klare Züge. Die
Decoration ist hier fast überall unmittelbar mit der Architektur verbunden, sodafs die hin-
sichtlich der letzteren noch offenen Zweifel und Fragen auch sie selbst treffen. Auch die
Documente helfen dagegen nur wenig, da sich die Notizen der Acten mit den Einzel-
stücken der Decoration im ganzen doch nur selten idcntificiren lassen. Um in diesem
schier unübersehbaren Schmuckteppich alle einzelnen Muster kunstgeschichtlich genau zu
sichten, dazu bedürfte es zunächst wiederum der Lösung einer anderen Aufgabe: eines
beschreibenden Inventares sämtlicher Einzelsculpturen des Domes, in Form eines historisch-
kritischen Kataloges.1 2) Aber ein solcher würde schon für sich allein ein umfangreiches
Buch bilden und aufserdem die speciellen Ziele unserer folgenden Betrachtung nur mittelbar
fördern. Es gilt hier vielmehr nur, aus diesem quantitativ so ungeheuren Denkmälerbestand
lediglich die kunsthistorisch bezeichnendsten Gruppen herauszuheben und in ihrer
Beziehung zur lombardischen Stilgeschichte zu erörtern.
Dabei kann die Eintheilung unter doppelten Gesichtspunkten erfolgen: unter einem
pragmatischen und einem speciell historischen. Der erstere scheidet die Arbeiten im
wesentlichen nur nach ihrer Stellung innerhalb der Gcsamtdecoration an sich, der zweite
nach ihrer Entstchungszeit. Die Fülle des Stoffes mag hier die Berücksichtigung beider
Gesichtspunkte rechtfertigen. Für den Schmuck des Mailänder Domes wurde kurz nach
seinem Beginn der ganze decorative Apparat nordisch-gothischer Kathedralen mit allen
seinen verschiedenen Theilen und Formengruppen entfaltet. Die letzteren — beispiels-
weise die Strebebogen, die Fialendecoration, das Mafswerk, und die Wasserspeier — auch
in der kunsthistorischen Erörterung von einander zu trennen, liegt bei dem Studium der
meisten deutschen oder französischen Kathedralen kein zwingender Grund vor, denn bei
diesen sind die Arbeiten an diesen Theilen meist nach einem einheitlichen Plan, innerhalb
einer einheitlichen Schultradition ausgeführt. Am Mailänder Dom aber sind diese beiden
stabilen Elemente zum mindesten nicht von so wesentlicher Bedeutung, und die Lösung
jener an sich gleichartigen Aufgaben erfolgte weder gleichzeitig noch zusammenhängend, sie
spiegelt vielmehr mannigfache Entwicklungsphasen des decorativen Stiles und überhaupt
des ganzen künstlerischen Könnens, und zur Charakteristik des letzteren in seiner Gesamt-
heit bedarf es demgemäfs auch steter Ausblicke auf die Ausbildung jener einzelnen Decora-
tionsmotive an sich.
1) Anfänge zu einer stilistischen Analyse der decorativen Formen finden sich natürlich fast in
jeder wissenschaftlichen oder künstlerischen Würdigung des Domes. Vergl. besonders Beltrami. a. a. O.
II. Lo Stile.
2) Derselbe dürfte sich jedoch nicht nur auf die noch vorhandenen Sculpturen beschränken,
sondern müfste auch alle in den Acten genannten Bildwerke berücksichtigen, etwa wie dies E. Meyer-
Altona für den Bildschmuck des Strafsburger Münsters begonnen hat. Vergl. Studien zur deutschen
Kunstgeschichte. I. Band. 2. Heft. Strafsburg 1894.
Meyer, Oberitalienische Frührenaissance. 4
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ist dieses Thema bisher nirgends eingehend und im Zusammenhang behandelt worden. *)
Auch nach Mafsgabe der ausführlichsten Baugeschichte des Domes, der Acten der Bau-
hütte selbst, scheint es im ganzen erst im zweiter Linie gestanden zu haben. Fragen der
Construction sind es meist, welche die Bauleute beunruhigen, welche sie veranlassen,
sich Rath aus der Fremde zu holen, und den Streit der Meinungen dann mit doppelter
Schärfe entfachen. Aber wie die hierauf bezüglichen Erörterungen und Concurrenzen, so
werden in den Acten in kaum übersehbarer Fülle auch diejenigen verzeichnet, welche den
Schmuckformen gewidmet sind. Vielfach wird über constructive und decorative Durch-
bildung der einzelnen Bautheilc gleichzeitig entschieden, und zahlreiche, meist weniger
bekannt gewordene Künstlernamen gehören lediglich der Geschichte der Decoration an.
Und mehr noch, als die Documente, hätten die Monumente selbst zu einer eingehenden
Behandlung dieses Themas locken müssen, denn sie bieten demjenigen, der sich die frei-
lich grofse Mühe ihres Detailstudiums nicht verdriefsen läfst, einen hohen Gewinn: sie ent-
rollen allgemeingültig ein überraschend reiches, ungemein anziehendes Bild mittelalterlicher
Kunst, und bieten in sich gleichsam eine Geschichte der decorativen Plastik der Lombardei.
Allerdings zeigt dasselbe noch keineswegs in allen seinen Theilen klare Züge. Die
Decoration ist hier fast überall unmittelbar mit der Architektur verbunden, sodafs die hin-
sichtlich der letzteren noch offenen Zweifel und Fragen auch sie selbst treffen. Auch die
Documente helfen dagegen nur wenig, da sich die Notizen der Acten mit den Einzel-
stücken der Decoration im ganzen doch nur selten idcntificiren lassen. Um in diesem
schier unübersehbaren Schmuckteppich alle einzelnen Muster kunstgeschichtlich genau zu
sichten, dazu bedürfte es zunächst wiederum der Lösung einer anderen Aufgabe: eines
beschreibenden Inventares sämtlicher Einzelsculpturen des Domes, in Form eines historisch-
kritischen Kataloges.1 2) Aber ein solcher würde schon für sich allein ein umfangreiches
Buch bilden und aufserdem die speciellen Ziele unserer folgenden Betrachtung nur mittelbar
fördern. Es gilt hier vielmehr nur, aus diesem quantitativ so ungeheuren Denkmälerbestand
lediglich die kunsthistorisch bezeichnendsten Gruppen herauszuheben und in ihrer
Beziehung zur lombardischen Stilgeschichte zu erörtern.
Dabei kann die Eintheilung unter doppelten Gesichtspunkten erfolgen: unter einem
pragmatischen und einem speciell historischen. Der erstere scheidet die Arbeiten im
wesentlichen nur nach ihrer Stellung innerhalb der Gcsamtdecoration an sich, der zweite
nach ihrer Entstchungszeit. Die Fülle des Stoffes mag hier die Berücksichtigung beider
Gesichtspunkte rechtfertigen. Für den Schmuck des Mailänder Domes wurde kurz nach
seinem Beginn der ganze decorative Apparat nordisch-gothischer Kathedralen mit allen
seinen verschiedenen Theilen und Formengruppen entfaltet. Die letzteren — beispiels-
weise die Strebebogen, die Fialendecoration, das Mafswerk, und die Wasserspeier — auch
in der kunsthistorischen Erörterung von einander zu trennen, liegt bei dem Studium der
meisten deutschen oder französischen Kathedralen kein zwingender Grund vor, denn bei
diesen sind die Arbeiten an diesen Theilen meist nach einem einheitlichen Plan, innerhalb
einer einheitlichen Schultradition ausgeführt. Am Mailänder Dom aber sind diese beiden
stabilen Elemente zum mindesten nicht von so wesentlicher Bedeutung, und die Lösung
jener an sich gleichartigen Aufgaben erfolgte weder gleichzeitig noch zusammenhängend, sie
spiegelt vielmehr mannigfache Entwicklungsphasen des decorativen Stiles und überhaupt
des ganzen künstlerischen Könnens, und zur Charakteristik des letzteren in seiner Gesamt-
heit bedarf es demgemäfs auch steter Ausblicke auf die Ausbildung jener einzelnen Decora-
tionsmotive an sich.
1) Anfänge zu einer stilistischen Analyse der decorativen Formen finden sich natürlich fast in
jeder wissenschaftlichen oder künstlerischen Würdigung des Domes. Vergl. besonders Beltrami. a. a. O.
II. Lo Stile.
2) Derselbe dürfte sich jedoch nicht nur auf die noch vorhandenen Sculpturen beschränken,
sondern müfste auch alle in den Acten genannten Bildwerke berücksichtigen, etwa wie dies E. Meyer-
Altona für den Bildschmuck des Strafsburger Münsters begonnen hat. Vergl. Studien zur deutschen
Kunstgeschichte. I. Band. 2. Heft. Strafsburg 1894.
Meyer, Oberitalienische Frührenaissance. 4