Giganten.
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kanntesten sind diejenigen der Marcuskirche, des Domes von Como und der Loggia
von Brescia.
Und trotz alledem bleibt die Gesamtheit dieser „Giganten“ des Mailänder Domes
kunsthistorisch innerhalb der decorativen Plastik des mittelalterlichen Kirchenbaues ohne
rechte Parallele, eine völlig eigenartige, prächtige Schöpfung. Mit ihrer ganzen Kraft
scheint sich die bildnerische Phantasie auf diese Aufgabe concentrirt zu haben, und bei
jeder Einzellösung derselben ward sie zu neuer Leistung geschult. Schon inhaltlich fällt
diese Vielseitigkeit auf. Sehr wesentlich wird jener eben skizzirte hergebrachte Gestalten-
kreis noch ausgedehnt. Gänzlich fehlt das Ge-
schlecht der Heiligen; innerhalb der profanen
Welt aber steigt die Schaar dieser Figuren von
den wilden, ungeschlachten Gesellen, mit denen
Märchenphantasie die Natur zu bevölkern liebt,
allmählich bis zu wohlgesitteten Vertretern des
ritterlichen Gesellschaftskreises empor. Auf be-
haarte Waldmenschen, Rüpel und Unholde, für
welche der volksthümliche Name „giganti“ im
Grunde allein gilt, folgen Vertreter der dienenden
Classe der realen Welt, schlichte Boten und
Knappen; ihnen gesellen sich als blutsverwandte
Genossen bäuerische Gestalten, Wanderer und
Jäger und nackte Actfiguren; und von hier aus
leiten stattlich ausgerüstete Pagen, Herolde und
Schildträger endlich zum Rittcrgeschlecht selbst
über, welches durch Gewappnete in Festgewän-
dern vertreten ist (vergl. die Uebersichtstafel).
Eine gleich grofse, bei allen Verschiedenheiten
einheitliche Reihe von profanen und dennoch
nicht der Porträtbildnerei zugehörenden Statuen
dürfte in dieser Epoche in der ganzen decora-
tiven Plastik Italiens nicht aufzufinden sein. In
der That kennzeichnen sie unter mannigfachen
Gesichtspunkten ungewöhnlich lehrreich eine all-
mähliche Entwicklung von fehlerhaften Anfängen
zur Vollendung. Das gilt, selbst abgesehen von
den reifen Renaissancearbeiten, bereits von den
bis etwa zur Mitte des Quattrocento entstandenen
Statuen. Schon im Hinblick auf das Aeufser-
lichste, auf den Mafsstab! Lange währte es, bis
man hier das Richtige fand. An der Guglia
Carelli und an dem entsprechenden Eckpfeiler
der Südseite sind die Giganten weit überlebens-
Abb. 29.
Gigant am Mailänder Dom.
grofs, viel gröfser als an den benachbarten Pfeilern des Chores selbst, obgleich die letzteren
doch soviel höher sind als die Guglia Carelli, und folglich auch gröfsere Figuren erwarten
liefsen. Nicht zum wenigsten bewirken denn auch gerade diese unverhältnifsmäfsig grofsen
Giganten, dafs die Guglia Carelli und ihr Gegenstück im Widerspruch zum Geiste der
Gothik so niedrig und wuchtig erscheinen. Wie unsicher man bezüglich des Mafsstabes
selbst noch im Beginn des 15. Jahrhunderts war, bekunden deutlich die an jeder Eckkante
mit je zwei Giganten übereinander verzierten Pfeiler zwischen den Sacristeifenstern; zuweilen
sind selbst die an benachbarten Kanten ein und desselben Pfeilers in gleicher Höhe ange-
brachten Statuen der Gröfse nach verschieden. Nur allmählich, vom Chor nach der Front
zu vorwärtsschreitend, gelangte man zu dem günstigsten Mafsstab, welcher ungefähr der
Lebensgröfse entspricht. — Offenbar fiel es den Meistern noch sehr schwer, dem hohen
Standort der Figuren künstlerisch Rechnung zu tragen. Bei den ältesten Giganten, an den
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kanntesten sind diejenigen der Marcuskirche, des Domes von Como und der Loggia
von Brescia.
Und trotz alledem bleibt die Gesamtheit dieser „Giganten“ des Mailänder Domes
kunsthistorisch innerhalb der decorativen Plastik des mittelalterlichen Kirchenbaues ohne
rechte Parallele, eine völlig eigenartige, prächtige Schöpfung. Mit ihrer ganzen Kraft
scheint sich die bildnerische Phantasie auf diese Aufgabe concentrirt zu haben, und bei
jeder Einzellösung derselben ward sie zu neuer Leistung geschult. Schon inhaltlich fällt
diese Vielseitigkeit auf. Sehr wesentlich wird jener eben skizzirte hergebrachte Gestalten-
kreis noch ausgedehnt. Gänzlich fehlt das Ge-
schlecht der Heiligen; innerhalb der profanen
Welt aber steigt die Schaar dieser Figuren von
den wilden, ungeschlachten Gesellen, mit denen
Märchenphantasie die Natur zu bevölkern liebt,
allmählich bis zu wohlgesitteten Vertretern des
ritterlichen Gesellschaftskreises empor. Auf be-
haarte Waldmenschen, Rüpel und Unholde, für
welche der volksthümliche Name „giganti“ im
Grunde allein gilt, folgen Vertreter der dienenden
Classe der realen Welt, schlichte Boten und
Knappen; ihnen gesellen sich als blutsverwandte
Genossen bäuerische Gestalten, Wanderer und
Jäger und nackte Actfiguren; und von hier aus
leiten stattlich ausgerüstete Pagen, Herolde und
Schildträger endlich zum Rittcrgeschlecht selbst
über, welches durch Gewappnete in Festgewän-
dern vertreten ist (vergl. die Uebersichtstafel).
Eine gleich grofse, bei allen Verschiedenheiten
einheitliche Reihe von profanen und dennoch
nicht der Porträtbildnerei zugehörenden Statuen
dürfte in dieser Epoche in der ganzen decora-
tiven Plastik Italiens nicht aufzufinden sein. In
der That kennzeichnen sie unter mannigfachen
Gesichtspunkten ungewöhnlich lehrreich eine all-
mähliche Entwicklung von fehlerhaften Anfängen
zur Vollendung. Das gilt, selbst abgesehen von
den reifen Renaissancearbeiten, bereits von den
bis etwa zur Mitte des Quattrocento entstandenen
Statuen. Schon im Hinblick auf das Aeufser-
lichste, auf den Mafsstab! Lange währte es, bis
man hier das Richtige fand. An der Guglia
Carelli und an dem entsprechenden Eckpfeiler
der Südseite sind die Giganten weit überlebens-
Abb. 29.
Gigant am Mailänder Dom.
grofs, viel gröfser als an den benachbarten Pfeilern des Chores selbst, obgleich die letzteren
doch soviel höher sind als die Guglia Carelli, und folglich auch gröfsere Figuren erwarten
liefsen. Nicht zum wenigsten bewirken denn auch gerade diese unverhältnifsmäfsig grofsen
Giganten, dafs die Guglia Carelli und ihr Gegenstück im Widerspruch zum Geiste der
Gothik so niedrig und wuchtig erscheinen. Wie unsicher man bezüglich des Mafsstabes
selbst noch im Beginn des 15. Jahrhunderts war, bekunden deutlich die an jeder Eckkante
mit je zwei Giganten übereinander verzierten Pfeiler zwischen den Sacristeifenstern; zuweilen
sind selbst die an benachbarten Kanten ein und desselben Pfeilers in gleicher Höhe ange-
brachten Statuen der Gröfse nach verschieden. Nur allmählich, vom Chor nach der Front
zu vorwärtsschreitend, gelangte man zu dem günstigsten Mafsstab, welcher ungefähr der
Lebensgröfse entspricht. — Offenbar fiel es den Meistern noch sehr schwer, dem hohen
Standort der Figuren künstlerisch Rechnung zu tragen. Bei den ältesten Giganten, an den