Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
54

Erstes Capitel. Die Gothik des Mailänder Domes. I.

Chorpartien, ist dies überhaupt noch nicht versucht; sic wirken von oben, vom Dach
her, aus unmittelbarer Nähe gesehen, viel besser als von unten aus. Später ändert sich
dies. Man beginnt, die Köpfe gröfser, die Extremitäten kleiner zu bilden als sie im
Verhältnifs zur Gesamthöhe der Figur an sich sein dürfen, offenbar mit Rücksicht auf den
hohen Standort, und in der That erscheinen diese Statuen — besonders an der Nordseite
des Langhauses — in der Nähe unförmlich, während sic für den am Fufs des Baues
stehenden Beschauer ziemlich richtig proportionirt wirken. Dem entspricht es, dafs die
Arbeit selbst zuerst viel zu sehr und vor allem zu gleichwerthig ins Detail geht, sich dann
jedoch allmählich mehr auf die wesentlichen, bei gröfserer Entfernung des Auges wirkungs-
vollen Formen beschränkt. — Hängt schon dies Alles mit der Entwicklung des allgemeinen
künstlerischen Verständnisses und Könnens zusammen, so spiegelt sich diese noch klarer
in der Stellung der Figuren an sich, in der ganzen Art, wie sie ihres Amtes walten. Nicht
glücklich ist ihr Standort vor der schmalen Abfassung der Pfeilerecken, der mit ihrer
Stabwerkumrahmung als eine hohe Flachnische wirkt; nicht günstig vollends ihre drei-
eckige, zur Förderung des Wasserablaufs stark nach unten geneigte Standfläche. Hier
grofse Einzelstatuen aufzustellen, ohne dafs sie unschön in den engen Raum hineingeprefst,
an der Rückwand zu kleben und mit ihren nothwendiger Weise abwärts geneigten Sohlen
von ihrem gefährlichen Boden herabzugleiten scheinen — das ist selbst für die reifste
Plastik wahrlich keine geringe Aufgabe! Dazu kam die nicht minder schwierige Forde-
rung, die Haltung der Figuren durch eine rechte Scheidung von Stand- und Spielbein
naturwahr und abwechselungsreich zu gestalten.
Die geringere oder gröfsere Vollendung, in welcher diese Bedingungen erfüllt, der
Grad, in welchem die oben angedeuteten Fehler überwunden sind, müssen hier allgemein-
gültig als Kriterien auch für die Entstehungszeit der einzelnen Statuen gelten, wobei frei-
lich der Ungleichheit der hier thätigen Künstlerkräfte leider nicht genügend Rechnung
getragen werden kann. Urkundlich sind nur wenige feste Anhaltspunkte gegeben. Die
Hauptnotiz, welche schon oben erwähnt ist, das Protocoll aus dem Beginn des Jahres 1404,x)
wirft auf die ganze PIerstellungswei.se dieser Giganten ein Streiflicht. Dieselbe bleibt rein
handwerklich, fast möchte man sagen fabriksmäfsig. Die Bildhauer sind an ein fremdes
Vorbild, an Entwürfe des Malers Paolino da Montorfano, gebunden, und der Auftrag
wird per Accord an den vergeben, der den geringsten Lohn beansprucht. Trotzdem ist
dieses Actenstück kunsthistorisch auch durch seine Einzelnamen wichtig, denn dieselben
kehren auch in den etwa gleichzeitigen auf die Heiligenstatuen der Chorfenster und Pfeiler
bezüglichen Documenten wieder und lehren jedenfalls eine Hauptgruppe der damals am
Bildschmuck des Domes beschäftigten „magistri picantes lapides vivos“ kennen. Ihr Ob-
mann ist ein Deutscher, Walter Monich,1 2) auch ein Peter Monich ist oft genannt;
ferner der oft erwähnte Annex Marchestcm, doch mufs derselbe bald nach diesen
Aufträgen, schon vor dem Juni 1404, gestorben sein.3) Die Mehrzahl dieser Bildhauer aber
besteht aus Oberitalicncrn, und meist aus solchen mit schon mehr oder minder bekannten
Namen: Jacopino da Tradate, Nicolo da Venezia,4) Alberto (Bertollo) da Cam-
pionc,5) Giorgio Solari (da Solaro), Marco Raverti (de Ravertis), Matteo Raverti u. a.
1) App. I S. 268; 12. Februar und 18. April 1404.
2) Ein Gigant von ihm unter anderen am 1. März 1407 erwähnt (Annili a. a. O. S. 279).
3) Vergl. die Notizen vom 3. und 4. Juni 1404 (App. I S. 269), laut welchen Jacopino da Tradate
und Peter Monich zwei ursprünglich dem Annex Marchestem aufgetragene Prophetenstatuen „propter
eius mortis interventum“ vollenden.
4) Annah, App. I S. 266: 24. December 1403: „Nicholaus de Veneziis, magister fabricae, pro ejus
mercede laboraturae unius figurae gigantis, per eum sculptae in lapide marmoreo ponendae in opere
fabricae, 1. 40.“
5) Albertus de Campiliono magister fabricae, pro ejus solutione figurae unius gigantis per ipsum
sculptae in lapide marmoreo pro operibus fabricae, 1. 41, s. 12. App. a. a. O. S. 267. Da Alberto da Cam-
pione (vergl. oben S. 50) im April 1404 den „homo salvaticus“ als Wasserspeier (?) arbeitet, und man mit
einiger Wahrscheinlichkeit annehmen kann, dafs vielfach Speier und Gigant von ein und demselben Bild-
hauer ausgeführt wurden, so wäre der 1404 genannte Gigant des Alberto da Campione vielleicht mit
dem nackten, schreitenden Mann am Pfeiler zwischen den beiden Fenstern der nördlichen Sacristei zu
identificiren.
 
Annotationen