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Das Tiburium.

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zugeschriebene Urtheil gegenüber,1) der Bau sei in „conformitä cum el resto del edificio“
weiterzuführen.
Und diese Forderung spricht nur aus, was seit dem Beginn der Renaissancezeit
bis zu den Tagen Carlo Borromeos und Pellegrinis in der That geschah. Am Bauplatz des
Mailänder Domes erwies sich selbst der Zauber der Renaissancekunst nicht stark genug,
um einen endgültigen Bruch mit der Vergangenheit zu veranlassen. Ein solcher wäre bereits
nach dem vorläufigen Abschlufs, den der Bau schon 1419 erhalten hatte, sehr wohl‘mög-
lich gewesen. Man konnte die Vierung — dem Renaissanceideal und seiner Verkörperung
am Florentiner Dom entsprechend —- mit einer frei in schlichten Linien emporsteigenden
Kuppel krönen, wie es Leonardo2) in einzelnen seiner Tiburium-Skizzen in der That plante.
Man konnte ferner das Langhaus von der vorläufigen Endgrenze jenseits der zweiten öst-
lichen Pfeilerreihe an im Renaissancestil vollenden. Es wäre dann etwa eine ähnliche
äufsere Verbindung, beziehungsweise ein analoger innerer Gegensatz von Gothik und Re-
naissance, entstanden, wie an so zahlreichen Kirchen Mittelitaliens, ja wie in der Lom-
bardei selbst am Dom von Como. Allein daran scheint man in Mailand kaum jemals
ernsthaft gedacht zu haben. Dauernd vielmehr blieb dort auch in der Renaissance das
Ziel, die stilistische Einheitlichkeit des Domes möglichst zu wahren. Das erscheint auf
dem den Alpen so nahen Boden Oberitaliens natürlich genug. Der corporative Kunst-
betrieb besafs hier eine das Hergebrachte erhaltende Kraft, und die Zeugen mittelalterlicher
Kunst standen hier dicht geschaart.
Auch traten der Erreichung dieses Zieles in Mailand geringere Hindernisse ent-
gegen, als etwa in Mittelitalien. Der Schmuckteppich, welchen das endende Trecento und
das beginnende Quattrocento über den Bau gebreitet hatte, bot für alle Theile der Deco-
ration ausgiebige Muster. Keineswegs aber dienten diese lediglich einer sclavischen Nach-
ahmung. Eine solche hätte dem ganzen Geist der Zeit widersprochen. Eine gothische
Krabbe, eine Kreuzblume, eine Console des Trecento so nachzuzeichnen und nachzu-
meifseln, dafs sich die eigene Arbeit mit dem trecentistischen Vorbild verwechseln liefs
— das lag weder im Wollen noch im Können des Renaissancekünstlers. Unwillkürlich
fliefst in die Linien des Blattwerkes etwas von denen des antikisirenden Akanthus, und selbst
wo das Thema und seine decorative Verwendung sich dem mittelalterlichen Vorbild völlig
anschliefst, empfängt es den Stempel der Renaissancekunst: die Putten werden bald zu völlig
naturalistischen Kinderporträts, bald zu antikisirenden Genien, die Köpfe mit Büsten-
abschlufs hier zu lebenswahren Bildnissen, dort zu Masken und Idealtypen Leonardesker Art,
die Wasserspeier zu Grottesken, die Giganten zu Rittern und Schildträgern des 16. Jahr-
hunderts. So erneuert sich hier die lombardische Trecentokunst mit den reiferen, an der
Antike geschulten Mitteln des Cinquecento. Und gerade diese Phase in der langen Stil-
geschichte des Mailänder Domes ist von besonderem Reiz. Sie ist, trotz etlicher allgemeinen
Analogien, diesseits und jenseits der Alpen einzig in ihrer Art und bleibt auch nicht
ohne Einflufs auf die lombardische Renaissancekunst selbst.
Die Fortführung der Arbeiten seit der Mitte des Quattrocento schrittweis zu ver-
folgen und eingehend zu schildern, wie jene die Muster abwandelnde Nachbildung des
ganzen vielgliedrigen gothischen Decorationsapparates, der Strebebogen und Strebepfeiler,
der Fialenthürmchen, Wimpergengalerien, des Fenstermafswerks und der Pfeilercapitäle im
Inneren, an den Querschiff- und Langhaustracten während des endenden 15. und des 16. Jahr-
hunderts erfolgte, ist im Rahmen dieses Buches unmöglich. Der Aufgabe desselben wird
auch vollständig Genüge geleistet, wenn einzelne bezeichnende Hauptstücke herausgegriffen

1) Annali della fabbrica del Duomo di Milano etc. III. (Milano 1880.) Vergl. die Ent-
scheidung der Commission am 27. Juni 1490 (Francesco di Giorgio da Siena und Dolcebuono):
„de fare li ornamenti, lanterna et fiorimenti, conformi a l’ordine delo hedifitio et resto dela giesia.''
Annali a. a. O. S. 62.
2) Vergl. Works etc. bei Richter, a.-a. O. II. PI. XCIX. In anderen Skizzen (PI. C. 4) sucht er
dem Gesamtbild der Kuppel den gothisirenden Charakter zu wahren.
 
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