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Neuntes Capitel. Zur Stillehre der lombardischsn Frührenaissance.

denn die Träger der venezianischen Frührenaissance sind meist Glieder desselben Künstler-
geschlechts der oberitalicnischen Seen, an ihrer Spitze die Solari, die im Venezianischen
den bezeichnenden Namen „Lombardi“ empfingen.
Und dennoch entfernt sich deren Stilweise merklich von der der lombardischen
Heimath, wie verwandte Keime selbst unter gleichem Himmelsstrich in verschiedenem Erd-
reich abgewandelte Blüthen zeitigen.
Und solche veränderte Lebensbedingungen fand die lombardische Frührenaissance
in der Lagunenstadt. Darauf weist schon das Werk, das, ähnlich wie der Mailänder
Dom in der Lombardei, im Mittelpunkt gerade alles decorativen Schaffens in Venedig
steht: die Marcus-Kirche. Die Mailänder Kathedrale ist eine nationale Schöpfung von
ganz persönlichem Reiz, aber sie ist mit einem Hauptstrom der grofsen europäischen Stil-
geschichte verbunden: mit der Gothik. S. Marco aber bleibt aufserhalb dieses Zusammen-
hanges., Auch dort: malerische Pracht, in der Gestaltung des Raumes wie seiner
Grenzflächen, aber fast ganz unbekümmert um die im Abendland hergebrachte Tektonik, un-
übersichtlich, geheimnifsvoll. Auch dort: Incrustation, aber
zu verschwindend geringem Thcil durch abendländische Stein-
metzkunst, fast ausschliefslich vielmehr durch farbigen Flächen-
schmuck im Anschlufs an eine fremde Zierweise, wobei deren
Anwendung zugleich etwas von der Freude des Sammlers
offenbart, der seine Schätze zur Schau stellt. Kostbare Mar-
morplatten und Säulen, fremdartige vom Zufall zusammen-
gewürfelte Fragmente, inhaltreiche Mosaiken — ein phantasti-
sches Nebeneinander, ein Märchenbild, dessen Inhalt und
Colorit dem Orient entstammt!
Und etwas von diesen Charakterzügen der Marcus-
Kirche ging in alle venezianischen Umformungen der italieni-
schen Stilweisen über. Wie die „Gothik“ in Venedig an der
Ca d’Oro, an der Porta della Carta und an den Ziergiebeln
von S. Marco eine rein malerische, phantastische Pracht ge-
wonnen hatte, die in ganz Italien nicht ihres Gleichen findet,
so mufste sich auch die Renaissancedecoration selbst da, wo
sie jede gothische Ueberlieferung abweist, dem venezianischen
Localcolorit fügen. Nie gelangte der Bildtrieb der Steinmetz-
kunst in Venedig so ausschliefslich zur Herrschaft, wie etwa
an der Front der Colleoni-Capelle und der Certosa. Noch
immer macht ihr der Stein-Schnitt mit seinen Marmorplatten
und -Scheiben das Gebiet streitig. Schon dies mochte bewirken,
dafs sich weder der Formen- noch der Flächenschmuck in so winzigen Mafsstab einer Miniatur-
kunst verlor, noch in solcher Ueberladuug ausdehnt, wie zuweilen in der Lombardei. Dennoch
haben diese Vorzüge in Venedig nur ganz ausnahmsweise die Harmonie der Florentiner
erreicht. Auch in Venedig fehlte der Sinn für das Monumentale, für die rechte Abstufung
der decorativen Mittel, ja selbst für die der Mafse. Aus solchem Mangel erklärt sich jener
„Schreinerstil“, welcher Fronten wie die von S. Zaccaria und der Miracoli-Kirche, und
Wandgräber wie das des Dogen Tron in S. M. dei Frari schuf, erklärt sich ein solches Mifs-
verhältnifs zwischen Bildwerk und Rahmen, wie es beispielsweise das Mocenigo-Monument
in SS. Giov. e Paolo aufweist. Da hätte der Stile Bramantesco zu bessernder Schulung
Anlafs genug gefunden! — Allein diese Unzulänglichkeiten werden in Venedig durch eine
Reihe von Schöpfungen ausgeglichen, in denen die Sprache der Frührenaissance mit köst-
licher Liebenswürdigkeit und Frische nur jener heimischen Neigung zur malerischen Phan-
tastik, zum Ueberraschenden, dient. Es genüge hier, die Fagade der Scuola di S. Marco
zu nennen. Die grofsen Reliefbilder ihres Erdgeschosses mit dem mächtigen, einsam
herausschreitenden Löwen, dazu die Plattenverkleidung des piano nobile und die Halbkreis-
bekrönungen des zweiten Stockwerkes — das hätte man aufserhalb Venedigs weder ge-
wagt noch gekonnt: das ist Frührenaissance in echt venezianischer Fassung! Und solche


Abb. 127. Vom Sacristeibecken
der Certosa.
 
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