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Bihrer, Andreas; Schneidmüller, Bernd [Begr.]; Weinfurter, Stefan [Begr.]
Begegnungen zwischen dem ostfränkisch-deutschen Reich und England (850 - 1100): Kontakte, Konstellationen, Funktionalisierungen, Wirkungen — Mittelalter-Forschungen, Band 39: Ostfildern, 2012

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https://doi.org/10.11588/diglit.34755#0097

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96

B) Regiones

B) 2) c) Exilanten
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Frühmittelalterliche Exilanten hielten sich anders als Händler oder Pilger nicht freiwil-
lig, sondern erzwungenermaßen außerhalb der Heimat auf. "'' Dabei ist gleichwohl zu
bedenken, dass die Grenze zwischen freiwilliger Auswanderung und unfreiwilligem
Exil oftmals unscharf ist. Wenn die Ausreise als erzwungen empfunden wurde, dann
standen im Mittelpunkt der Äußerungen von Vertriebenen die Klage über den Verlust
der Heimat und die Pläne, in diese wieder zurückzukehren. Im Gegensatz zur Antike
stellt das Christentum daneben positive Bewertungsmuster zur Verfügung, nach denen
das Exil als Grundbedingung des menschlichen Lebens verstanden und in eine ge-
dankliche Verbindung mit Pilgerfahrt und Peregrinatio gestellt wird. '"" Verbannung ist
im christlichen Sinn ein Rückzug aus der Welt sowie eine Zeit der Transformation und
des spirituellen Fortschritts. Aber auch das Christentum kennt eindeutig negativ beur-
teilte Ausschlüsse aus einer Gemeinschaft, so die Vertreibung aus einem Kloster oder
die Exkommunikation. Der mittelalterliche Exilant wurde aus seinen sozialen Bindun-
gen und gesellschaftlichen Rollen herausgerissen, er verlor sein Ansehen und seinen
Status. Möglicherweise förderte die Exilsituation das Interesse an der neuen Heimat,
unter bestimmten Umständen war der Verbannte an der Integration in neue Gruppen
und an einer Aneignung der Kultur der neuen Umgebung interessiert. Eine Verban-
nung erlaubte zudem, Konflikte abkühlen zu lassen, neue Freiräume zu schaffen oder
neue Netzwerke zu knüpfen, die auch nach einer etwaigen Rückkehr bestehen bleiben
konnten. Insbesondere diesen Verbindungen gilt im Folgenden ein besonderes Augen-
merk, um Aussagen darüber treffen zu können, wie die aus England oder dem ostfrän-
kisch-deutschen Reich Exilierten neue Verbindungen und Räume erschufen und stabi-
lisierten.
Diese außergewöhnliche Situation gab Exilanten oftmals einen Anlass, über sich,
die Heimat und die neue Umgebung zu reflektieren, oder deren besonderes Schicksal
forderte andere Autoren heraus, darüber zu berichten. In der Selbst- und Fremdwahr-
nehmung konnte eine Verbannung als traumatische Erfahrung, als Bewährungsprobe
oder als Phase der Selbstbehauptung verstanden werden. Neben einer gewissen Band-
breite des persönlichen Umgangs mit Exilerfahrungen gab es auch ein zeittypisches
Repertoire für die literarische und historiographische Darstellung einer Verbannung.^
Für die narrative Beschreibung von Exilsituationen im Frühmittelalter stellte die anti-

369 »The historical and legal phenomenon of exile is still largely unexplored territory.« Houts, Pre-
face: Exile, S. xi, vgl. ebenso Houts, Exile, S. 117. Zum Exil im Mittelalter vgl. die Beiträge in den
Sammelbänden Bihrer/Limbeck/Schmidt, Exil, Lagos-Pope, Exile, und Napran/Houts, Exile,
sowie der Forschungsüberblick bei Napran, Introduction: Exile, S. 1-5. Zu Exilanten in Eng-
land und im ostfränkisch-deutschen Reich liegt bislang nur eine Untersuchung der Briefe
deutscher Exilanten im England des 16. Jahrhunderts vor, vgl. Zitzlsperger, Ahnung.
370 Zur Deutung von Exilsituationen im Christentum vgl. Kortüm, Advena, sowie Brito-Martins,
Concept, S. 83-84, Ehlen, Bilder, S. 160-164, Robertson, Exile, S. 190-191, und Staunton, Exile,
S.172-173.
371 Zur Exildichtung im Mittelalter fehlt eine Gesamtdarstellung, eine Untersuchung von Fallbei-
spielen z.B. bei Edwards, Exile, Ehlen, Bilder, Froesch, Ovid, S. 124-126, Smolak, Dichter,
S. 161-167, oder Viarre, Exil, S. 261-271.
 
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