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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 6.1907

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Nr. 8
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Schmidkunz, Hans: Biedermeier als Erzieher
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https://doi.org/10.11588/diglit.23633#0424
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306

Biedermeier als Erzieher

springt. Bis ihn der zu fassen bekommt und ihn
überlegt! Nun gilt die Bewunderung dem alten
Herrn: der Jugendstil hat Biedermeierstil ange-
nommen. Und dann geht der Tanz wieder weiter.
Voran der Empirestil und mehrmals wieder, beson-
ders als Hotelarchitektur. Und endlich ziehen die
wohlbekannten französischen Ludwige vorüber, im
Augenblicke vielleicht als letzter der fünfzehnte.
V Wir spotten über den Herrn Biedermeier mit
seinem braunen Frack, seinem Tschakozylinder
und seiner hohen Binde. Allein das ist weitaus
nicht der ganze alte Herr. Wir haben bisher unseren
Spass sehr ernst gemeint; doch es ist Zeit, auch
den Schein des Spasses abzulegen. Kennen wir
den Biedermeierstil nur aus einigen deutschen
Landstrichen, zumal nördlichen, so kennen wir ihn
eben lange nicht ganz. Suchen wir weiter, so ersteht
er unserem Blick am würdigsten in Oesterreich,
würdig nicht nur, sondern auch mit adeligem Reich-
tum, mit leichter Grazie. Manche Veröffentlichung
der neueren Zeit hat uns den österreichischen
Biedermeierstil vertrauter gemacht. Und da merken
wir, wieviel Tradition in ihm steckt, in die Ver-
gangenheit zurück und voran in die Zukunftsmög-
lichkeiten. Oesterreich, das Land der prächtigen
Barocke, hat eine kontinuierliche Kunst von da
durch den sogenannten Maria-Theresia-Stil und den
Altwiener oder Kongress- oder (allgemeiner) Empire-
Stil bis zu seinem Biedermeier hindurchgeführt.
Nur mit einem starken auswärtigen Einschlag: dem
von England her. Die Wiener Zeitschrift „Kunst
und Kunstgewerbe“ hat den Ursprung des Wiener
Biedermeier aus England mehrfach zu zeigen ge-
sucht, wenn auch mit Ueberschätzung, hat also der
modernsten Anglisierung ihre Vorläufer nachge-
wiesen. Und dort, in England, ging die kontinuier-
liche Tradition erst recht geschlossen vor sich: nach
einer sehr späten Renaissance der Stil der Königin
Anna, der vielleicht für das englische Wohnhaus
entscheidend war, und dann die wenig unterschie-
denen Kunstschichten unter den Georgskönigen;
alles nüchterner, schwerer, als in dem leichtlebigen
Oesterreich. Und die Seitenstücke dazu in Nord-
amerika, den „Colonial-Style“ und den „Late Colo-
nial-Style“, fangen wir erst neuerdings an, kennen
zu lernen. V
V Es ist nicht ohne Belang, dass gerade Ludwig XIV.
und Ludwig XV. auch immer wieder an uns vorüber-
tanzen. Zwar sind ihre Stile eine allzu spezifische
Ausprägung des alten französischen Regimes und
der südeuropäischen Gegenreformation, als dass sie
für heute eine Tradition bedeuten könnten, und
dass besonders für eine Stadt wie Berlin das
Schwelgen in pompösen Barockeformen einen natur-

gemässen Sinn hätte. Allein wie viel können
uns die Urgrosseltern Biedermeiers noch lehren!
wohl mehr, als es die „Klebearchitektur“ der Re-
naissance kann, und erst recht mehr, als es für
unsere Wohnverhältnisse der italienische Renais-
sancepalast kann. Zwar hat es keinen Sinn mehr,
„barock“ zu wohnen; und die Reste solcher Formen
an unseren Oefen und Plafonds belächelt bereits
Herr Biedermeier. Allein wenn wir etwa in irgend
ein kleineres deutsches Museum gehen, das beson-
ders die letzten Jahrhunderte vertritt, und wenn
wir dort die wunderbar geschmackvollen Hohlgläser
des 17. und 18. Jahrhunderts, die formenfreudigen
Lehnen selbst von Bauernstühlen aus dem 17. Jahr-
hundert betrachten: dann hat uns die Taschen-
spielerei mit dem Quadrat und dem Quadratchen
und der Raute nicht mehr viel zu sagen. V
V Wir scheinen in unlösbare Spannungen hinein-
gekommen zu sein. Gegenwart soll gelten; aber
wir konnten sie recht wenig zur Geltung bringen.
Tradition soll gelten; aber wir lassen nicht mehr
die historische Nachbildung gelten. Wir schütteln
in Berlin den Kopf über Barocke und empfehlen
dort die Tradition der märkischen Gotik, machen
anscheinend also wiederum Vergangenheit in der
Gegenwart. Wir sollen modern und historisch sein;
wo ist da die richtige Weise, in der sich beides
vereinigen lässt? V
V Wenn wir nun noch einmal Biedermeier und
seine Vorfahren zu Worte kommen lassen, so er-
fahren wir von ihm in seinen besten Augenblicken,
dass er unsere gespannten Fragen nicht recht ver-
steht. Wir fragen ihn nach den Worten, die wir
gebrauchen sollen, und er antwortet in seiner, frei-
lich oft etwas plumpen und einfältigen Weise: „rem
tene, verba sequentur!“ „Halte dich an die Sache,
die Worte werden schon kommen!“ Es ist fast so,
als wollten wir unsere Grossmutter fragen, wie man
glücklich wird. Da weiss die erfahrene Frau
wahrscheinlich nicht anders zu antworten, als mit
den Worten: „Am ehesten dadurch, dass man nicht
danach strebt! Tue deine Dinge recht, und das
Uebrige wird schon folgen!“ Und wie tut man
seine Dinge recht, wie ist man geschickt und klug
und geschmackvoll? Durch eine Bildung, die uns
zu gute kommen lässt, was Jahrhunderte aufgehäuft
haben. V
V Wenn den Herrn Biedermeier ein junger Kunst-
schüler fragt: „Sag mir doch, wie ich bauen soll,
ob rund oder rechteckig oder spitz, ob romanisch
oder Rokoko oder Sezession!“ — so wird der Ge-
fragte vielleicht antworten: „Denk vor allem einmal
nicht an den Stil als Zweck; bereite dir das Glück,
stilvoll oder gar stilbildend zu schaffen, in richtiger
 
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