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Moderne Bauformen: Monatshefte für Architektur und Raumkunst — 6.1907

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Nr. 8
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Schmidkunz, Hans: Biedermeier als Erzieher
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https://doi.org/10.11588/diglit.23633#0425
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307

Biedermeier als Erzieher

Weise vor; frag nicht nach bestimmten Formen,
sondern nach Wahrheit und Wahrhaftigkeit, nach
Bestimmtheit und Klarheit und Deutlichkeit, nach
Geschmack und Feingefühl, nach Natur als Vorbild
und nach Natürlichkeit als Schaffensprinzip, nach
Bedarf und Zweck, aber auch nach Veranschau-
lichung des Bedarfes und des Zweckes; frag dich,
ob du etwas zu sagen hast, und dann sprich das
aus! Arbeite ganz einfach gut und schön, ob nun
rund oder rechteckig oder spitz! Du fragst mich,
wie das sei, das Gut und Schön? Da habe ja eben
ich von dir zu erfahren, in welcher Weise du gut
und schön bauen wirst! Dir kann ich nicht den
Bau angeben, den du ausführen sollst und willst.
Dir kann ich nur sagen: Bilde dein Können, deinen
Geschmack usw. auf jede mögliche Weise, wie dich
alle Historie einschliesslich des letzten Augenblickes
lehrt! Dazu ist allerdings heute noch mehr, als es
schon zu meiner Zeit nötig gewesen wäre, eine
hochgesteigerte Künstlerpädagogik nötig. Ich habe
ihren Segen nicht genossen oder nicht geniessen
wollen; darum bin ich primitiv geblieben. Aber
ich weiss, dass ich auf dem rechten Wege bin, und
dass meine Enkel das Richtige finden, wenn sie
meine Wege weiterwandern.“ V
V Und wenn wir als seine Enkel jetzt wissen, dass
wir am besten tun, uns an die Sache zu halten,
worauf die richtigen Worte, d. h. Kunstformen, so-
zusagen von selbst folgen werden, können wir auch
kurz erwidern: wir verzichten auf das Suchen
alter und neuer Formstile und streben nur nach
einem Sachstil. Darauf kommen ja jene zahl-
reichen Redewendungen über den modernen Stil,
von Zweckmässigkeit und Materialgemässheit usw.,
hinaus. Natürlich nützt einem Stummen das Halten
an die Sache nichts zum Treffen der richtigen
Worte. Er muss auch die Sprache erlernt haben;
und die Kunstsprache zu erlernen, ist ein Ding der
Treue gegen die Natur und gegen die Tradition,
aber natürlich auch der Lehrer, die das vermitteln.
Wer klagt, dass eigentlich die Stilformen erschöpft
seien, der unterschätzt die Muster der Natur und
der Tradition. Ueber allen Kunststreitigkeiten steht
die Erfolgsicherheit des Kunstjüngers, der draussen
im Grünen einheimische Blätter und Blumen sucht,
sie mit geschultem Können nachbildet und sie je
nach Bedarf an die Baustelle oder sonstige Stelle,
die ihrer bedarf, anpasst. Ueber allen Kunststreitig-
keiten steht die Erfolgsicherheit des Kunstjüngers,
der sich von der Historie sagen lässt, was schon
dagewesen ist (es ist alles oder aber nichts schon
dagewesen), und was im Strome der Entwickelung
sich noch nicht so ausgelebt hat, dass es abge-
storben wäre, V

V Noch bleibt ein unbegrenzter Formenreichtum
zu neuem Leben übrig. Denken wir einmal an
eines der einfachsten tektonischen Probleme, das
aber gerade unsere nächsten Vorfahren so einfältig
wie möglich behandelt haben: den Fensterrahmen
und speziell den Oberteil des Fensters, den „Sturz“.
Unsere Weisheit ist hier das Rechteck. Nur mit
halbem Erfolg und widerspruchsvoll ringen die
Gardine, die Portiere, und was sonst die Tapezier-
kunst des Fensters schafft, gegen jene trostlose
Form. Doch noch lange nicht ist diejenige Fenster-
gestaltung ausgeschöpft, die dem Tapezierwerk am
nächsten kommt: der Vorhangbogen oder Stern-
bogen, zumal mit doppelter Spitze, wie er z. B. an
dem Kaufhause zu Freiburg im Breisgau so wohl-
gefällig zu sehen ist. Und wahrlich kann man es
nicht historische Eklektik schelten, wenn aus zwei
Bogenformen eine geschmackvolle Kombination
gemacht wird, wie beispielsweise aus zwei kleinen
Rundbogen, die einen Sternbogen in die Mitte
nehmen. Suchen wir nur erst, so werden wir
Reichtümer finden, gegen welche die eben ange-
führten Beispiele nur gering sind! Ein wahrhaft
moderner Künstler wie Theodor Fischer hat auch
darin gute Anläufe gezeigt, wie z. B. an den Fenstern
seiner Stuttgarter Schule zu ersehen ist. V
V Ueber den „Eisenstil“ haben wir viel gestritten;
doch eine Sammlung der bisher in markanterer
Weise vorgekommenen Eisenkapitäle scheint noch
nicht zu existieren. Der fälschlich so genannte
Eisenstil, dessen Anfänge selbst in der Baukunst
schon Generationen weit zurückliegen, hat die
Tradition der Metallkunst als einen Vorrat von
lehrreichen Mustern für sich; ihr ist kaum eine
Stilform entgegen, und sie bringt ihr Material auch
zu jener Weichheit, die von zahlreichen Naturvor-
bildern verlangt wird. Die Ornamentik „up to date“,
um es so zu nennen, d. h. das Ornament, dessen
Vorbilder von den nächstliegenden Pflanzen und
Tieren, vielleicht auch Mineralien, hergenommen
sind, mag im Eisen noch weite neue Welten ent-
stehen lassen. V
V Biedermeier hat uns auch merken lassen, wie
wir es nicht machen sollen. Die kahlen Flächen
waren schon längst durch technisch und künstlerisch
wertvolle Auflösungen überwunden. Heute mögen
sie dem Sezessionssporte gefallen. Dass sie sich
durch schlechte Akustik im Innenraume rächen,
kann man aus den einfachsten physikalischen Er-
wägungen wissen. Und die Vernachlässigung des
Idealen rächt sich materiell immer wieder. V
V Damit können wir bereits mitten in den aktuell-
sten Fragen des modernen Kirchenbaues stehen.
Er hat es schon deshalb schwer, weil wir uns nicht
 
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