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Das architektonische Schaffen im Spannungsfeld
von Tradition und Originalität

Yillen, Paläste und ländliche Residenzen

Unter den von Tilman entworfenen Werken sind Profan-
bauten am stärksten vertreten, angeführt von der großen
Gruppe der Paläste und Herrenhäuser. Seine über vierzig-
jährige Tätigkeit in den Diensten der Magnatenfamilie
Lubomirski, des königlichen Hofes und verschiedener
Vertreter der hervorragendsten und mächtigsten Adelsfa-
milien in Polen erklärt, weshalb gerade der Palast und das
Herrenhaus zum Hauptthema seiner Architektur wurden.
Die Gesellschafts- und Wirtschaftsstrukturen der polni-
schen Adelsrepublik bedingten jedoch, daß diese Residen-
zen gelegentlich sogar dann ländlichen Charakter besaßen,
wenn sie in der Nähe oder auf dem Gebiet einer Stadt
lagen. Die zahlreichen erhaltenen oder nur durch Ent-
wurfszeichnungen bekannten Paläste und Herrenhäuser
gehören daher auch - trotz aller Unterschiede in Größe
und Ausstattung, Geschoßzahl oder Baumaterial - einem
Architekturtypus an, der aus Mittel- und Norditalien
stammt und durch die norditalienische Architekturtheorie
kodifiziert wurde: dem Typus der Vorstadtvilla und der
ländlichen Residenz (der vitruvianischen villa suburbana
und villa rustica).1 Dieser als Residenz für einen adligen
Landherrn besonders geeignete Bautypus war in der pol-
nischen Architektur schon in der ersten Hälfte des
17. Jahrhunderts bekannt.2 In dieser Tradition bewegte
sich Tilman, als er seme Residenzen und Paläste entwarf.

Der früheste Entwurf, mit dem Tilman an den in Polen
gut bekannten Typus der norditalienischen Villa anknüpf-
te, betraf den Palast von Jerzy Sebastian Lubomirski in
Przeworsk (Abb. 1) aus der Mitte der sechziger Jahre: mit
einer übersichtlichen Anlage der in einer Flucht liegenden
Innenräume und mit emem repräsentativen Saal, der den
Mittelteil einnahm und der seinerseits von niedrigen Räu-
men der symmetrisch an den Seiten liegenden Wohnap-
partements eingefaßt war. Die Eckpavillons, in denen sich
die Wohngemächer befanden, hatten lhre Vorläufer in den
Pseudo-Wehrtürmen der polnischen Paläste aus der ersten
Hälfte des 17. Jahrhunderts, die einem ähnlichen Zweck
dienten. Auch ihre Entstehungsgeschichte führt auf das
Vorbild der Villa zurück, die als sogenannte Poggio Reale-
Variante durch Serlios Traktat allgemein verbreitet war
(Abb. 314). Sie besteht aus einem repräsentativen Mittel-
raum, an den vier Eckpavillons für Wohnzwecke angefügt

sind. 3 In Anknüpfung an die polnische Tradition unterlag
das Vorbild Poggio Reale emer Reduktion, wie sie auch in
der venezianischen terra ferma als der alte Typus der
zweitürmigen villa castello bekannt war. 4 Ebenso gab es in
der älteren polnischen Architektur bereits die offene
Terrasse 1m Sockelgeschoß auf der Gartenseite wie auch
die m lhrem Ursprung französische Abtrennung eines
Alkoven in den Schlafgemächern. Solche Anlagen fanden
sich bereits m den Entwürfen zu Innenräumen von Gio-
vanni Battista Gisleni, dem Hofarchitekten des Königs
Wladyslaw IV. 3 Keinerlei Analogie gibt es in Polen jedoch
zu der Form des mittleren Saals über dem Grundriß eines
griechischen Kreuzes. Damit steht der Palast in Przeworsk
in der Nähe einiger der von Palladio oder Scamozzi
entworfenen Villen, die Tilman zumindest aus den Trakta-
ten dieser Architekten kannte.6 Das Abschneiden der
Ecken des kreuzförmigen Mittelsaals, das sich in italieni-
schen Bauwerken nicht findet und das dazu dient, den
Mittelraum mit einer Kuppel zu überwölben, verrät wie-
derum Tilmans holländische Abstammung: der Grundriß
stützt sich auf das Vorbild des berühmten Oraniensaals 1m
Huis-ten-Bosch in Den Haag (Pieter Post, 1645-1647,
Abb.316).7 Der erste von Tilman in Polen entworfene
Palast, der typologisch eine monumentalisierte oder er-
weiterte Palladio-Villa ist und doch gleichzeitig an die

1 Zur Genese dieses Architekturtypus siehe Ackermann, 1963; Forss-
man, 1965, S. 57 und ff.; Heydenreich, 1967.

2 Siehe Krötka nauka budownicza - Mitobpdzki, 1957, S.31, 43, 58,
67-68, 87-88; Milobpdzki, 1968, S. 145, 162-163; Milobpdzki, 1980,
S. 70-74.

3 Die Entstehungsgeschichte dieses Musters wird erörtert bei Mossa-
kowski, 1965-b, S. 157; Milobpdzki, 1966, S. 389.

4 Vgl. Forssman, 1965, S. 14-15.

5 Vgl. Miks, 1961, S. 332-333, Fig. 4-5; Krötka nauka budownicza-
Milob^dzki, 1957, S. 61, 69; Lileyko, 1984, S. 139.

6 Palladio, 1570, III, 14 (Villen: Pisani in Bagnolo, Foscari genannt
Malcontenta und Barbaro inMaser); Scamozzi, 1615, Teil 1, III, S. 291
(Villa Badoer in Peraga). Vgl. auch Serlio, 1619, VII, Fol 23. Ein
Projekt für einen Palast mit einem Mittelsaal über dem Grundriß eines
griechischen Kreuzes veröffentlichte in Polen W^sowski, 1678, S. 65,
Taf. VII. Die Traktate Serlios, Palladios und Scamozzis besaß Tilman
in seiner Bibliothek. Siehe Mossakowski, 1961, Nrn. 32, 38-39, 75-76;
Anhangll, Nrn. 45, 46, 111, 36, 99, 109.

7 Vgi. Lunsingh-Scheurleer, 1969, S. Fig. 1-3.

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