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Die Stellung von Tilmans Werk im Rahmen
der europäischen Architektur

Um Tilmans Bedeutung für die polnische Architektur und
seine Stellung im Rahmen der europäischen Baukunst
erfassen zu können, muß man vor allem die Bedingungen
kennen, unter denen sich sein Werk entwickelt und ge-
formt hat. Für die Prägung seines Schaffens waren sicher
die Erfahrungen bei den Studien m seinem Heimatland
wesentlich bestimmend. Dort bildete Tilman um die Mitte
des 17. Jahrhunderts seine künstlerischen Überzeugungen
in allgemeinen Umrissen aus. Im Bereich der Architektur
geschah dies vor allem unter dem Einfluß der sich damals
entwickelnden neuen, klassizistisch onentierten Rich-
tung, die, stark den ästhetischen Theorien des Humanis-
mus verpflichtet, auf individuelle Weise die Elemente der
norditalienischen Architektur emes Palladio und Scamoz-
zi umbildete und sie mit den Formen des sich gleichzeitig
entfaltenden französischen Klassizismus verband. An-
klänge an die Werke der führenden Vertreter dieser Rich-
tung, an Jacob van Campen, Pieter Post, Philip Ving-
boons, sind an manchen Bauwerken Tdmans besonders
deutlich ablesbar. Die Architektur seines Heimatlandes
bestimmte auch die Richtung seiner weiteren Studien und
Interessen. Sie war der Wegweiser für die künstlerischen
Impulse des jungen Holländers, den der Weg nach Süden
über Frankreich führte. Dort hatte sich in den Werken von
Framjois Mansart und Louis Le Vau endgültig der von
Tilman später so geschätzte Residenztypus mit ruhigen
klassizistischen Gliederungen und Dekorationen heraus-
gebildet, mit dem gegliederten, von den Flügeln der
Communs eingefaßten Corps de Logis und mit der weiten
Ausdehnung entre cour et jardin. Von Paris geleiteten ihn
dann seine frühen Studien nach Italien, vor allem in die
venezianische terra ferma mit der Villenarchitektur Palla-
dios.

Vielleicht hat Tilman nicht zufällig Venedig als Ort für
einen längeren Aufenthalt in Italien gewählt. Wenn man
von dem Studium der Malerei absieht, so hatte der Künst-
ler hier Gelegenheit, zahlreiche Bauwerke, die ihm aus den
Traktaten Palladios, Scamozzis und dem Musterbuch
Serlios bekannt waren, durch Autopsie genau kennenzu-
lernen.1 Ebenso festigte und vertiefte der Aufenthalt in
Venedig seine bisherige künstlerische Bildung. Dort
konnte er die »reine« Architektur der Kirchen Palladios
und die Fassaden der »neuen« Paläste am Canale Grande
mit ihren charakteristischen dreiachsigen Serlianen der
Mittelfenster studieren. Er lernte die Villenbauten der
terra ferma und jenen Typus der ländlichen Residenz gut

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kennen, der dem Lebensstil des venezianischen Adels so
vorzüglich entsprach. Die Lehre Palladios und Scamozzis
wurde später zu einer der Hauptkomponenten in Tilmans
Schaffen. Sein großer Beitrag zur polnischen Architektur
war denn auch die Verbreitung von Kompositions- und
Dekorationsformen der venezianischen Villen- und Sa-
kralbaukunst in einem bisher unbekannten Maß.2
Neben den Werken Palladios und Scamozzis hat Tilman
sicher noch in Holland auch die Traktate Vitruvs und
Albertis studiert. Beide Werke besaß er in seiner War-
schauer BibliothekP In Venedig, dem letzten Zentrum des
italienischen Humanismus, vertiefte er seine Kenntnisse in
der klassischen Architekturtheorie der Renaissance wie
auch seine humanistischen Interessen, die er aus Holland,
dem Land mit besonders lebhafter Tradition in diesem
Bereich, mitgebracht hatte.4 Man kann annehmen, daß
Tilman in Venedig viele alte und neue Werke dieser
geistigen Strömung kennenlernte, z. B. auch die berühmte
Hypnerotomachia Poliphili des Francesco Colonna. Diese
Studien begründeten endgültig seine Überzeugung von
der Unveränderbarkeit grundlegender Prinzipien einer
»guten« Architektur und bestimmten seine Hinwendung
zu den Problemen, die sich die Renaissance in ihrer
humanistischen Gesinnung für die Theorie der Architek-
tur sowie ihre Verwirklichung in der Praxis gestellt hatte.
Von da an sollte ihn das Thema des sakralen Zentralbaues
sein ganzes Leben hindurch beschäftigen. Indem er ver-
schiedene Varianten von Zentralbauten entwarf, knüpfte
er bewußt oder unbewußt an die Renaissance-Konzeptio-
nen von Brunelleschi, Giuliano da Sangallo, Bramante,
Leonardo, Raffael und Michelangelo an. Auch an den
Profanbauten läßt sich Tilmans Streben nach fast abstrakt
vollkommenen Kompositionen beobachten. Zu erwähnen
ist hier vor allem das Landhaus in Czermaköw. Die
Mehrzahl der von ihm entworfenen Herrenhäuser und
Paläste zeichnen Rationalismus, Logik, Klarheit und Sym-
metrie aus. Diese Eigenschaften, die der älteren polnischen
Architektur nicht vollkommen fremd waren, erscheinen
in so konsequenter Form in Polen erst mit Tilmans
Werken und Entwürfen.

1 Diese Werke, vor allem in venezianischer Ausgabe, finden sich später
in Tilmans Bibliothek in Warschau. Mossakowski, 1961, S. 25-32,
Nrn. 32, 38-39, 69, 75-76; Anhangll, Nrn. 36, 45, 46, 99, 109, 111.

2 Vgl. Mossakowski, 1982-a, S. 104-114.

3 Mossakowski, 1961, S. 30, Nrn.42, 45; Anhangll, Nrn. 51, 54.

4 Vgl. Mossakowski, 1968, S. 189-212.
 
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