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Die Auswirkungen von Tilmans Knnst

Tilmans über vierzigjähriges Schaffen als Architekt spielte
für den Aufbau Polens nach den Zerstörungen des schwe-
disch-polnischen Krieges eine bedeutende Rolle und präg-
te durch seinen Stil den damaligen Baubetrieb in beträcht-
lichem Maße. Dies ist besonders in Warschau, dem Zen-
trum des politischen Lebens, zu sehen, dessen Bevölke-
rung in dem gleichen Zeitraum um das Dreifache wuchs.
Denn die Mehrzahl der neuen städtebaulichen Anlagen
und eine Reihe wichtiger Bauten der Hauptstadt entstan-
den nach seinen Entwürfen oder unter seinem unmittelba-
ren Einfluß.

Einige Bauten, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhun-
derts entstanden sind, stehen Tilmans Werk so nahe, daß
man sie allgemein mit ihm in Verbindung bringt, obwohl
dafür keine Bestätigung in den Quellen zu finden ist. Zu
ihnen gehört vor allem die Stanislaus-Kirche in Stare
Ch^ciny (Abb. 348, 349), eine Stiftung des Kastellans
Stefan Bidzinski aus dem letzten Viertel des i/.Jahrhun-
derts, die m ihrer zentralen Anlage über dem Grundriß
eines griechischen Kreuzes, mit ihrer polygonalen Kuppel
sowie mit dem Gliederungssystem des Innenraumes und
des Außenbaues sehr an die Bernhardinerkirche in Czer-
niaköw erinnert.1 Bei dem Tilman zugeschriebenen Um-
bau des Krakauer Tores in Warschau von 1694 ist die
Artikulierung durch Pilaster und Lisenen seinem Stil sehr
ähnlich.2 Auch der nach 1682 erbaute Palast der Familie
Bielinski in Stary Otwock (Abb. 346, 347) entstand in dem
unmittelbaren Einflußbereich seiner Kunstö Für die drei-
traktige villenartige Inneneinteilung des Bauwerkes, den
stark vortretenden achteckigen Mittelsaal und die vermut-
lich in der zweiten Bauphase angefügten rechteckigen
Pavillons auf der Gartenseite finden sich in Tilmans
Werken und Entwürfen zahlreiche Analogien. Doch die
auffallend fehlerhaften Proportionen des Risalitgiebels
sprechen gegen seine Autorschaft.

Der Einfluß von Tilmans Kunst ist besonders in Werken
derjenigen Architekten sichtbar, die seine Entwürfe aus-
geführt und dabei mit ihm zusammengearbeitet haben.
Die ihnen zugeschriebenen Bauten stehen häufig Tilmans
Arbeiten so nahe, daß man sein persönliches Eingreifen
während der Entstehung der Entwürfe nicht ausschließen
kann.

So ist wohl die von Jan Dobrogost Krasinski gestiftete
Reformatenkirche in Wpgröw (Abb. 352, 353), deren aus-

führender Architekt Carlo Ceroni (gest. 1712) war, in den
Jahren 1683-1706 ebenfalls durch die Umgestaltung von
Entwürfen Tilmans entstandenö unter seinen Zeichnun-
gen findet sich die Grundrißstudie für eine Kirche (Zeich-
nung AT 769) mit analogem, allerdings etwas reicherem
Programm; sie hat ein dreijochiges Schiff und eine stärker
ausgebaute Fassade, die möglicherweise eine Zweiturm-
fassade war. Die Komposition des 1711 geweihten Hoch-
altars für die Kirche in W^gröw (Abb. 352) wiederholt
einige Entwürfe Tilmans fast wörthch (so die Zeichnun-
gen AT 844 und AT 868).5 Auch die Pfarrkirche in
W^gröw, die 1703-1706 von Carlo Ceroni vermutlich
nach einem Entwurf von Jan Reisner umgebaut worden
ist, stand in deutlicher Abhängigkeit von Tilmans Werk.6

In dessen Wirkungsbereich stehen ebenfalls Arbeiten
von Giuseppe Piola (gest. 1713), der Tilmans Entwürfe für
die Warschauer Paulinerkirche (1707-1714) umgearbeitet
hat (Abb. 350). Piolas eigenständige Arbeit, die Piaristen-
kirche in Szczuczyn (1701-1708), folgte in der Innenauf-
teilung sichtbar dem erwähnten Entwurf Tilmans von
1700 (Kat. Nr. 54)7

Sowohl den Grundriß als auch die Komposition des
Baukörpers der Warschauer Kirche der Sakramentmerin-
nen wiederholte der nicht identifizierte Architekt der
Dominikanerkirche im litauischen Liszköw am Niemen
(Abb.351), die Jerzy Wladyslaw Kosila, ein Parteigänger
der Sapiehas, 1694 gestiftet hatte.8
In der Rekonstruktion von Giuseppe Simone Bellottis

1 Gostynski, 1960, S. 7—8; MiiobQdzki, 1980, S. 383-385.

2 Rutkowska, 1967, S. 428-433; MiiobQdzki, 1980, S. 374; Putkowska,
1991, S.291-293.

3 Witkiewicz, 1949, S. 122-132; Karpowicz, 1970, S. 146-161;
Miiob^dzki, 1980, S. 375-377; Baranowska, 1988; Putkowska, 1991,
S. 164-168.

4 Karpowicz, 1959-b, S. 177; Karpowicz, 1987, S.44; Milob^dzki,
1980, S. 389. Im Rechnungsbuch Krasinskis befand sich unter dem
Jahr 1694 eine Auszahlung »100 Florin für Ceroni« als Architekt der
Kirche in Wqgröw - siehe Schellenberg, 1954, S. 424, Anm. 2.

J Karpowicz, 1975-b, S. 73; Karpowicz, 1987, S. 39, 57, 71. Das schöne
Kruzifix im Altar hat wahrscheinlich Andreas Schlüter geschaffen.

6 Karpowicz, 1959-a, S. 70-83; Karpowicz, 1987, S.44, 81, 140.

7 Karpowicz, 1957, S. 232-246; Mossakowski, 1973, Abb.407; Karpo-
wicz, 1983, S. 133—134; Putkowska, 1991, S. 224-227.

8 Mitob$dzki, 1980, S.383; vgl. Siownik geograficzny, Bd. 5, 1884,
S. 324; Cerbulenas, Zubovas, 1964, S.213, 226; Kazakevicius, Sakal-
auskas, 1987, S. 110.


 
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