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Mitteilungen des Württembergischen Kunstgewerbevereins — [1].1902-1903

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Weitbrecht, Carl: Aesthetik und Mode, [2]
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https://doi.org/10.11588/diglit.7714#0309

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Hcftbctih und )VIodc.

allbekannte Sachen, wenn auch die feineren äftbetifeben "Verzweigungen
diefes allgemeinen ©efetzes nicht jedem £aien bewufst find. Qnd
ebenfo bekannt ift, welch ausgiebigen Gebrauch die Mode von diefem
©efetze macht: Tic bewegt fieb ja in der Regel nicht nur in ©egen-
fätzen, fondern geradezu in Gxtremen, das Gxtrem ift fogar eine
ihrer £ebensbedingungen. Und zwar das €xtrem in der zeitlichen
folge wie im räumlichen ]Nebeneinander: beute febnürt die Mode den
JVIenfcben zufammen wie ein Wickelkind, morgen baufebt und pludert
Tie ihn auf wie einen Cuftballon oder einen federnfack; beute giebt
fie dem ©igerl einen prügel in die Band wie einem Strafsenräuber,
morgen ein Stöckeben wie einem JMoritbatenfänger; beute ftülpt fie
der Modedame ein ©cbäude auf den Kopf wie einen Rübnerkorb,
morgen ein Deckelcben wie ein Campenunterfätzcben; beut macht fie
fett, morgen mager; beute mufs man auf hoben Stöckelcben geben,
morgen wie auf Plattfüßen cinberfcblurken u. f. w. u. f. w., und fo
ifts nicht nur in der Kleidermode, fondern auch in der Kunft- und
Sittenmode und in allen Moden: immer löft mit "Vorliebe ein 6xtrcm
das andere ab. Die extreme treten aber auch gleichzeitig und neben-
einander auf: während die Dame in der Krinoline einberkugelt, um-
tänzelt fie der JModeberr dünn und luftig wie der magerfte Schneider,
während die Dame fieb fo fteckendünn und büftelos macht wie nur
möglich, fcblampt und fcbludert das Mannsgebilde in formlofen
Säcken einher; weit und eng, dick und dünn, kurz und lang, fcbmal
und breit, das wird an einer und derfelben Modefigur unterm ©efetz
des Extrems verteilt, von oben nach unten, von hinten nach vorn,
ganz unbekümmert darum, wie ©Ott den JMenfcben gefebaffen bat.
Zuweilen findet die Mode unter diefem ©efetz des Kontraftes etwas
ganz Richtiges und ©utes, oft gerade den Weg aus dem Unfinnigen
ins Sinnvolle, aber weil fie's nicht lange dabei aushält, fo mufs fie
folgerichtig immer von Zeit zu Zeit wieder aus dem Sinn in den
dnfinn patfeben, und weil fie nicht nur den Kontraft fuebt, fondern
gleich das Gxtrem, fo wurftelt fie den Sinn mit dem dnfinn, die
gefunde form mit der "Verzerrung oft gleichzeitig in das reine JVarren-
wefen zufammen.

Dabei wirkt ein anderes, gleichfalls allgemein äftbetifebes ©efetz
mit, das ©efetz der Steigerung, folgt eine Reibe von ein-
drücken oder Wirkungen zeitlich (unter Qmftänden auch räumlich)
aufeinander und find fie fämtlicb gleich ftark, fo wirken die fpäteren
 
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