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Recht und Staat
ragenden römischen Technik bedienen; so
ist auch das Weiterleben des römischen
Rechts im Hoch- und Spät-Mittelalter zu
verstehen. Es ist kein archäologisches
Wiederherstellen alten Römertums, son-
dern Neubau mit altem Material; die spiri-
tuelle Gesinnung der mittelalterlichen Ju-
risten bedient sich der römischen Technik,
um sich zu verwirklichen. — Die Frage
nach der wahren Bedeutung der aristote-
lischen und stoischen Begriffe im Ganzen
des römischen Rechts ist von erheblichem
Interesse; das gilt erst recht von dem Wan-
del, den eben diese Begriffe beim Übergang
in die christliche mittelalterliche Welt in
ihrer Bedeutung sicher erlitten haben;
aber die Darstellung von H. ist zu sehr an
ein antithetisches Schema gebunden, als
daß sie wirklich überzeugend sein könnte.
H. L.
b) In den römischen Provinzen
261 BAYET, ALBERT, Histoire de la morale
en France. II. La morale paienne ä
l’epoque gallo-romaine. Paris: Alcan.
592 S.
Das Buch ist nur Teil einer größeren auf
viele Bände berechneten Untersuchung über
die Geschichte der Moral in Frankreich.
Solange sie nicht wenigstens für die erste
der behandelten Epochen, die gallo-roma-
nische, abgeschlossen vorliegt, soll hier nur
darauf hingewiesen werden. B. stellt,
an die Ausführungen des 1. Bandes an-
knüpfend (La moraledes Gaulois, Paris 1930,
s. die Besprechung von Küchler, in: Volks-
tum und Kultur der Romanen 4, S. 172
bis 177) wieder die Frage nach dem Cha-
rakter der gallischen Moral in den ersten
vier Jahrhunderten. Die erste Schwierig-
keit liegt schon darin, daß rein gallische,
d. h. nicht schon durch das römische Me-
dium gefärbte Quellen nicht vorliegen; viel-
mehr entzieht sich infolge dieses Mangels
die erste Epoche der Romanisierung über-
haupt aller Untersuchung, und erst die spä-
teren lassen uns den Charakter der gallo-
romanischen Moralanschauungen erkennen.
Es handelt sich nur um rein juristische
Texte, denn obwohl die griechisch-römische
Kultur bekannt war und wir aus Ausonius
sogar auf eine neupythagoräische und neu-
platonische Bewegung in Gallien schließen
dürfen, wissen wir doch keinen Fall, wo
sie so ursprünglich angeeignet oder abge-
lehnt worden wäre, daß besondere gallische
Gesichtspunkte sich ablesen ließen. Nach
B. fallen seit dem 3. Jahrh. römisches und
galloromanisches Recht zusammen. B.
gliedert seine ausführlich dokumentierte
Untersuchung nach verschiedenen Ge-
bieten : Moral und politisches Leben, soziale
Organisation, Familie, Lüge, Ehe usw. und
beweist innerhalb eines jeden Gebietes seine
von der Forschung der Keltologen (im be-
sonderen Jullians) abweichende These. Es
gab in Gallien nicht eine, sondern ver-
schiedene einander kreuzende und oft
widersprechende Moralanschauungen. Da-
von, daß römische und gallische Bestand-
teile nicht zur Einheit verbunden wären
oder in Widerspruch ständen, finden sich
in den Texten kaum Spuren; ja B. möchte
sogar glauben, daß die Romanisierung die
gallische Welt nicht zurückdrängte, son-
dern daß diese jener so ursprünglich ver-
wandt war, daß sie ihr entgegenkam.
F. Sch.
c) Im deutschen Mittelalter
HECK, PHILIPP, Übersetzungsprobleme 262
im frühen Mittelalter. Tübingen: Mohr.
XV, 303 s.
Das an dem Buche für unseren Zu-
sammenhang Wesentliche ist die Frage-
stellung : Das Rechtsleben des frühen Mittel-
alters hat sich in deutscher Sprache voll-
zogen; die schriftliche Niederlegung der
Rechtsnormen für die Dauer erfolgte aber
in lateinischer Sprache, weil die deutsche
Aufzeichnung nicht „üblich“ war. Da die
rechtskundigen Laien kein Latein konnten,
brauchten die gesetzgebenden Versamm-
lungen einen Kleriker, der ihre Beschlüsse
in die Schriftsprache zu übertragen hatte;
diese Tätigkeit kam in wichtigen Fällen
auf eine Übersetzung zu Protokoll hinaus.
Dieser Tatbestand hat zur Folge, daß wohl
die einzelnen Begriffe in lateinischen Wor-
ten ihr Äquivalent finden, nicht aber der
ganze Zusammenhang in die Übersetzung
eingeht. Daher kann der moderne Interpret
den Sinn nicht einfach aus der lateinischen
Satzfügung entnehmen, ohne die kritische
Frage nach dem dahintersteckenden deut-
schen Urtext zu stellen. Diese Methode
wird an zwei Beispielen aus der frühmittel-
alterlichen Rechtsgeschichte ausgeführt:
Recht und Staat
ragenden römischen Technik bedienen; so
ist auch das Weiterleben des römischen
Rechts im Hoch- und Spät-Mittelalter zu
verstehen. Es ist kein archäologisches
Wiederherstellen alten Römertums, son-
dern Neubau mit altem Material; die spiri-
tuelle Gesinnung der mittelalterlichen Ju-
risten bedient sich der römischen Technik,
um sich zu verwirklichen. — Die Frage
nach der wahren Bedeutung der aristote-
lischen und stoischen Begriffe im Ganzen
des römischen Rechts ist von erheblichem
Interesse; das gilt erst recht von dem Wan-
del, den eben diese Begriffe beim Übergang
in die christliche mittelalterliche Welt in
ihrer Bedeutung sicher erlitten haben;
aber die Darstellung von H. ist zu sehr an
ein antithetisches Schema gebunden, als
daß sie wirklich überzeugend sein könnte.
H. L.
b) In den römischen Provinzen
261 BAYET, ALBERT, Histoire de la morale
en France. II. La morale paienne ä
l’epoque gallo-romaine. Paris: Alcan.
592 S.
Das Buch ist nur Teil einer größeren auf
viele Bände berechneten Untersuchung über
die Geschichte der Moral in Frankreich.
Solange sie nicht wenigstens für die erste
der behandelten Epochen, die gallo-roma-
nische, abgeschlossen vorliegt, soll hier nur
darauf hingewiesen werden. B. stellt,
an die Ausführungen des 1. Bandes an-
knüpfend (La moraledes Gaulois, Paris 1930,
s. die Besprechung von Küchler, in: Volks-
tum und Kultur der Romanen 4, S. 172
bis 177) wieder die Frage nach dem Cha-
rakter der gallischen Moral in den ersten
vier Jahrhunderten. Die erste Schwierig-
keit liegt schon darin, daß rein gallische,
d. h. nicht schon durch das römische Me-
dium gefärbte Quellen nicht vorliegen; viel-
mehr entzieht sich infolge dieses Mangels
die erste Epoche der Romanisierung über-
haupt aller Untersuchung, und erst die spä-
teren lassen uns den Charakter der gallo-
romanischen Moralanschauungen erkennen.
Es handelt sich nur um rein juristische
Texte, denn obwohl die griechisch-römische
Kultur bekannt war und wir aus Ausonius
sogar auf eine neupythagoräische und neu-
platonische Bewegung in Gallien schließen
dürfen, wissen wir doch keinen Fall, wo
sie so ursprünglich angeeignet oder abge-
lehnt worden wäre, daß besondere gallische
Gesichtspunkte sich ablesen ließen. Nach
B. fallen seit dem 3. Jahrh. römisches und
galloromanisches Recht zusammen. B.
gliedert seine ausführlich dokumentierte
Untersuchung nach verschiedenen Ge-
bieten : Moral und politisches Leben, soziale
Organisation, Familie, Lüge, Ehe usw. und
beweist innerhalb eines jeden Gebietes seine
von der Forschung der Keltologen (im be-
sonderen Jullians) abweichende These. Es
gab in Gallien nicht eine, sondern ver-
schiedene einander kreuzende und oft
widersprechende Moralanschauungen. Da-
von, daß römische und gallische Bestand-
teile nicht zur Einheit verbunden wären
oder in Widerspruch ständen, finden sich
in den Texten kaum Spuren; ja B. möchte
sogar glauben, daß die Romanisierung die
gallische Welt nicht zurückdrängte, son-
dern daß diese jener so ursprünglich ver-
wandt war, daß sie ihr entgegenkam.
F. Sch.
c) Im deutschen Mittelalter
HECK, PHILIPP, Übersetzungsprobleme 262
im frühen Mittelalter. Tübingen: Mohr.
XV, 303 s.
Das an dem Buche für unseren Zu-
sammenhang Wesentliche ist die Frage-
stellung : Das Rechtsleben des frühen Mittel-
alters hat sich in deutscher Sprache voll-
zogen; die schriftliche Niederlegung der
Rechtsnormen für die Dauer erfolgte aber
in lateinischer Sprache, weil die deutsche
Aufzeichnung nicht „üblich“ war. Da die
rechtskundigen Laien kein Latein konnten,
brauchten die gesetzgebenden Versamm-
lungen einen Kleriker, der ihre Beschlüsse
in die Schriftsprache zu übertragen hatte;
diese Tätigkeit kam in wichtigen Fällen
auf eine Übersetzung zu Protokoll hinaus.
Dieser Tatbestand hat zur Folge, daß wohl
die einzelnen Begriffe in lateinischen Wor-
ten ihr Äquivalent finden, nicht aber der
ganze Zusammenhang in die Übersetzung
eingeht. Daher kann der moderne Interpret
den Sinn nicht einfach aus der lateinischen
Satzfügung entnehmen, ohne die kritische
Frage nach dem dahintersteckenden deut-
schen Urtext zu stellen. Diese Methode
wird an zwei Beispielen aus der frühmittel-
alterlichen Rechtsgeschichte ausgeführt: