Der Kopf mit der Binde
Bürger Meisters, sondern für die bedeutendste und edelste Schöpfung seiner Mainzer Zeit; der Kopf mit der
Binde stammt auch sicher nicht vom Ostlettner, sondern (wie die Teufelsfratze) vom Westlettner, der nach
allem, was wir wissen, ein eigenhändiges und das einzige Mainzer Werk des Naumburger Meisters ist. Durch
neuere Funde, die anläßlich der jüngsten Wiederherstellung des Mainzer Doms gemacht wurden, hat meine
Auffassung, wie ich glaube, eine so wesentliche Stütze erfahren, daß ich nunmehr darüber berichten kann9.
I.
Der Atlant vom Ostlettner und der Kopf mit der Binde haben formal nicht mehr miteinander gemein,
als es bei Werken gleicher Entstehungszeit und verwandter Schulherkunft zu erwarten ist10. Was sie ähnlich
erscheinen läßt, liegt in der Sphäre des Mimischen. Beide Köpfe zeigen ein sehr bewegtes Mienenspiel, und
ich zweifle nicht, daß es gerade die äußere Mimik ist, die immer wieder dazu geführt hat, die Köpfe in ein
verwandtschaftliches Verhältnis zu setzen. Einer eingehenderen Versenkung hält freilich die vorgebliche Ähn-
lichkeit weder nach der formalen Seite noch nach den seelischen Hintergründen der äußeren Bewegtheit stand.
Seelisch belebt im eigentlichen Sinn ist überhaupt nur der Kopf mit der Binde (Abb. 3). Ein medusenhaftes
Grauen als Folge einer erschütternden Vision scheint über den weit geöffneten, von den Brauen in steilem Winkel
überdachten Augen, Verzweiflung in der flachen Kurve des nicht ganz geschlossenen Mundes zu liegen, und
selbst in den geblähten Nasenflügeln glaubt man den Ausdruck des Entsetzens zu erkennen. Bei dem Atlanten
(Abb. 1 u. 2) sind es vor allem der wie zu einem ächzenden Stöhnen geöffnete Mund mit der hängenden Unter-
lippe und die gebuckelten Brauen, die dem Gesicht starke Bewegung verleihen. Aber der mimische Reichtum des
Gesichts resultiert mehr aus physischer Anstrengung als aus seelischer Erregung: die Last des Tragens bewirkt
das keuchende Ausstößen des Atems, die Beuelung der Brauen und die Durchfurchung der Stirn. Derartige Sym-
ptome körperlicher Anstrengung fehlen beim Kopf mit der Binde ganz und gar. Ihn erfüllt seelisches Leid,
und nichts scheint weniger berechtigt, als in diesem Kopf den Rest einer Tragfigur zu sehen, wie es gelegentlich
geschehen ist.
Bei der Beurteilung der künstlerischen Form wird man sich bewußt bleiben müssen, daß der Erhaltungs-
zustand der beiden Stücke nicht ganz gleichwertig ist, obwohl es auf den ersten Blick so scheinen möchte.
Beide Köpfe sind ja in einer ähnlichen Weise verstümmelt, beiden fehlt vor allem die Nase, bei beiden sind
Mund, Brauen und Stirnhaar bestoßen. Doch im Ganzen wird man sagen dürfen, daß der Atlant um ein
Geringes besser erhalten ist; von der Nase fehlt wenig mehr als die Kuppe; der kräftige Höcker, mit dem sie
unter der wulstigen Brauenbrücke einsetzt, ist noch wohl zu erkennen. Demgegenüber ist die Zerstörung der
Nase beim Kopf mit der Binde vollständiger. Dazu kommt neben vielen kleinen Beschädigungen der fast
8 Wenn der Kopf mit der Binde trotz der zunehmenden Wertschätzung, die die Literatur verrät, immer noch nicht
die ihm gebührende Rolle einnimmt und wenn seine kunstgeschichtliche Stellung noch immer nicht richtig erkannt wurde,
so liegt das mindestens zum Teil an seiner mangelhaften Unterbringung. Von dem unwürdigen Dasein, das er bis zur
Eröffnung des neuen Dom-Museums führte, will ich gar nicht sprechen; aber auch jetzt läßt die Aufstellung noch viel zu
wünschen übrig. In einer Fenster-Vitrine liegend (!), von hinten — oben beleuchtet, kommen seine besten Werte nicht zum
Ausdruck. Es wäre dringend zu wünschen, daß der Kopf auf ein Postament montiert und mit Seitenlicht aufgestellt würde.
— Herrn Domkapitular Dr. Lenhart bin ich für die Erlaubnis, den Kopf mehrfach aus der Vitrine zu nehmen, dem Kustos
des Dom-Museums, Herrn Nikolaus Krost, für freundliche Hilfe zu Dank verpflichtet.
10 Weder vom Kopf des Atlanten noch vom Kopf mit der Binde kann ich Aufnahmen bieten, die m. E. den künst-
lerischen Bestand erschöpfend und objektiv wiedergeben. Am besten sind beide Stücke von dem Mainzer Photographen
Hanns Metz aufgenommen. Nach seinen Photographien unsere Abbildungen 1—4.
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Bürger Meisters, sondern für die bedeutendste und edelste Schöpfung seiner Mainzer Zeit; der Kopf mit der
Binde stammt auch sicher nicht vom Ostlettner, sondern (wie die Teufelsfratze) vom Westlettner, der nach
allem, was wir wissen, ein eigenhändiges und das einzige Mainzer Werk des Naumburger Meisters ist. Durch
neuere Funde, die anläßlich der jüngsten Wiederherstellung des Mainzer Doms gemacht wurden, hat meine
Auffassung, wie ich glaube, eine so wesentliche Stütze erfahren, daß ich nunmehr darüber berichten kann9.
I.
Der Atlant vom Ostlettner und der Kopf mit der Binde haben formal nicht mehr miteinander gemein,
als es bei Werken gleicher Entstehungszeit und verwandter Schulherkunft zu erwarten ist10. Was sie ähnlich
erscheinen läßt, liegt in der Sphäre des Mimischen. Beide Köpfe zeigen ein sehr bewegtes Mienenspiel, und
ich zweifle nicht, daß es gerade die äußere Mimik ist, die immer wieder dazu geführt hat, die Köpfe in ein
verwandtschaftliches Verhältnis zu setzen. Einer eingehenderen Versenkung hält freilich die vorgebliche Ähn-
lichkeit weder nach der formalen Seite noch nach den seelischen Hintergründen der äußeren Bewegtheit stand.
Seelisch belebt im eigentlichen Sinn ist überhaupt nur der Kopf mit der Binde (Abb. 3). Ein medusenhaftes
Grauen als Folge einer erschütternden Vision scheint über den weit geöffneten, von den Brauen in steilem Winkel
überdachten Augen, Verzweiflung in der flachen Kurve des nicht ganz geschlossenen Mundes zu liegen, und
selbst in den geblähten Nasenflügeln glaubt man den Ausdruck des Entsetzens zu erkennen. Bei dem Atlanten
(Abb. 1 u. 2) sind es vor allem der wie zu einem ächzenden Stöhnen geöffnete Mund mit der hängenden Unter-
lippe und die gebuckelten Brauen, die dem Gesicht starke Bewegung verleihen. Aber der mimische Reichtum des
Gesichts resultiert mehr aus physischer Anstrengung als aus seelischer Erregung: die Last des Tragens bewirkt
das keuchende Ausstößen des Atems, die Beuelung der Brauen und die Durchfurchung der Stirn. Derartige Sym-
ptome körperlicher Anstrengung fehlen beim Kopf mit der Binde ganz und gar. Ihn erfüllt seelisches Leid,
und nichts scheint weniger berechtigt, als in diesem Kopf den Rest einer Tragfigur zu sehen, wie es gelegentlich
geschehen ist.
Bei der Beurteilung der künstlerischen Form wird man sich bewußt bleiben müssen, daß der Erhaltungs-
zustand der beiden Stücke nicht ganz gleichwertig ist, obwohl es auf den ersten Blick so scheinen möchte.
Beide Köpfe sind ja in einer ähnlichen Weise verstümmelt, beiden fehlt vor allem die Nase, bei beiden sind
Mund, Brauen und Stirnhaar bestoßen. Doch im Ganzen wird man sagen dürfen, daß der Atlant um ein
Geringes besser erhalten ist; von der Nase fehlt wenig mehr als die Kuppe; der kräftige Höcker, mit dem sie
unter der wulstigen Brauenbrücke einsetzt, ist noch wohl zu erkennen. Demgegenüber ist die Zerstörung der
Nase beim Kopf mit der Binde vollständiger. Dazu kommt neben vielen kleinen Beschädigungen der fast
8 Wenn der Kopf mit der Binde trotz der zunehmenden Wertschätzung, die die Literatur verrät, immer noch nicht
die ihm gebührende Rolle einnimmt und wenn seine kunstgeschichtliche Stellung noch immer nicht richtig erkannt wurde,
so liegt das mindestens zum Teil an seiner mangelhaften Unterbringung. Von dem unwürdigen Dasein, das er bis zur
Eröffnung des neuen Dom-Museums führte, will ich gar nicht sprechen; aber auch jetzt läßt die Aufstellung noch viel zu
wünschen übrig. In einer Fenster-Vitrine liegend (!), von hinten — oben beleuchtet, kommen seine besten Werte nicht zum
Ausdruck. Es wäre dringend zu wünschen, daß der Kopf auf ein Postament montiert und mit Seitenlicht aufgestellt würde.
— Herrn Domkapitular Dr. Lenhart bin ich für die Erlaubnis, den Kopf mehrfach aus der Vitrine zu nehmen, dem Kustos
des Dom-Museums, Herrn Nikolaus Krost, für freundliche Hilfe zu Dank verpflichtet.
10 Weder vom Kopf des Atlanten noch vom Kopf mit der Binde kann ich Aufnahmen bieten, die m. E. den künst-
lerischen Bestand erschöpfend und objektiv wiedergeben. Am besten sind beide Stücke von dem Mainzer Photographen
Hanns Metz aufgenommen. Nach seinen Photographien unsere Abbildungen 1—4.
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