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Reichardt, Rolf: Die deutsche Bibliothek der Französischen Revolution oder: Wie jakobinisch war die Revolutionsrezeption im Südwesten
DOI Page / Citation link:https://doi.org/10.11588/diglit.52727#0155
DIE DEUTSCHE BIBLIOTHEK DER FRANZÖSISCHEN REVOLUTION
149
Französische Revolution »immun« gewesen - als ob es sich um eine verderbliche Krankheit
gehandelt habe.
Es hieße jedoch das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man unter Berufung auf die
bisherige Forschung die Wirkung der Französischen Revolution auf das zeitgenössische
Deutschland - abgesehen vom politisch-institutionellen Bereich - wenn auch nicht völlig
leugnen, so doch zu einer quantite negligeable erklären. Denn strenggenommen kann das
vorliegende Schrifttum die Frage nach wirklichem Umfang und Bedeutung der französischen
Einflüsse schon von seinem Ansatz her gar nicht befriedigend beantworten. Und zwar vor
allem aus zwei Gründen: Zum einen nimmt es ganz im Sinne des Sie und nicht Wir von
Klopstock die großen Pariser Vorgänge zum Maßstab, ohne ausreichend zu berücksichtigen,
daß die deutschen Territorien an französischen Provinzen gemessen werden müßten und daß
die Französische Revolution auch aus weniger spektakulären Konflikten bestand, die schon
viel eher deutsche Parallelen hatten als die journees revcdutionnairesn. Zum anderen fragt das
Schrifttum bisher kaum nach konkreten französischen Quellen und Vorbildern revolutionä-
ren Erscheinungen im Alten Reich, nach den Trägern und Wegen ihrer Vermittlung.
Um die Wirkung der Französischen Revolution auf Deutschland in ihrem Ausmaß und
ihrem Charakter genauer abschätzen zu können, als es bislang möglich ist, plädiert der
vorliegende Beitrag daher dafür, die verdienstvolle Revolutionsforschung durch einen
Arbeitsansatz zu ergänzen12, der hauptsächlich drei Grundsätzen verpflichtet ist. Erstens gilt
es, die übliche Perspektive umzukehren und von der französischen Seite auszugehen: kritische
Wirkungsgeschichte darf sich nicht auf die Empfänger beschränken, sondern muß die histori-
sche Erscheinung von ihrem Ursprung bis zu ihrer Wirkung verfolgen. Dies bedingt zweitens
eine komparatistische Fragestellung in dem Sinne, daß man Vergleichbares vergleicht: erst
konkrete und nachgewiesene französisch-deutsche Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge
ermöglichen Aussagen, ob und wie die »Nachahmung« vom »Vorbild« abweicht. Dabei
kommt drittens soziokulturellen Erscheinungen eine besondere Bedeutung zu, weil - anders
als die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen - der deutsch-französische Kultur-
austausch sozialhistorisch erst unzureichend erforscht ist13 und weil sich die Französische
Revolution immer mehr als eine Kulturrevolution erweist14. Wenn sie also nennenswerte
Wirkungen im Alten Reich gehabt haben sollte, dann müßten diese nicht zuletzt auch im
kulturellen Bereich liegen.
Der Einwand liegt nahe, diese Grundsätze seien gewiß theoretisch plausibel, aber doch
etwas spitzfindig und mangels geeigneter Quellen uneinlösbar. Doch bevor der Skeptiker dem
11 Näheres bei R. Reichardt, Die Französische Revolution als Maßstab des deutschen >Sonder-
weges<?, in: J.Voss (Hg.), Deutschland und die Französische Revolution, München 1983,
S. 323-327.
12 Ausführlicher bei R. Reichardt, Die Französische Revolution und Deutschland - Thesen für
einen komparatistischen kulturhistorischen Neuansatz, in: Aretin/Härter (wie Anm.*) S. 21-28.
13 Vgl. M.Espagne und M. Werner, Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahr-
hundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C. N. R. S., in: Francia 13
(1985) S.502-510.
14 R. Koselleck und R. Reichardt (Hgg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesell-
schaftlichen Bewußtseins (Ancien Regime, Aufklärung und Revolution 12), München 1988; R. Rei-
chardt, Von der politisch-ideengeschichtlichen zur sozio-kulturellen Deutung der Französischen
Revolution: deutschsprachiges Schrifttum 1946-1986, in: GGes 15 (1989) S. 115-143.
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Französische Revolution »immun« gewesen - als ob es sich um eine verderbliche Krankheit
gehandelt habe.
Es hieße jedoch das Kind mit dem Bade ausschütten, wollte man unter Berufung auf die
bisherige Forschung die Wirkung der Französischen Revolution auf das zeitgenössische
Deutschland - abgesehen vom politisch-institutionellen Bereich - wenn auch nicht völlig
leugnen, so doch zu einer quantite negligeable erklären. Denn strenggenommen kann das
vorliegende Schrifttum die Frage nach wirklichem Umfang und Bedeutung der französischen
Einflüsse schon von seinem Ansatz her gar nicht befriedigend beantworten. Und zwar vor
allem aus zwei Gründen: Zum einen nimmt es ganz im Sinne des Sie und nicht Wir von
Klopstock die großen Pariser Vorgänge zum Maßstab, ohne ausreichend zu berücksichtigen,
daß die deutschen Territorien an französischen Provinzen gemessen werden müßten und daß
die Französische Revolution auch aus weniger spektakulären Konflikten bestand, die schon
viel eher deutsche Parallelen hatten als die journees revcdutionnairesn. Zum anderen fragt das
Schrifttum bisher kaum nach konkreten französischen Quellen und Vorbildern revolutionä-
ren Erscheinungen im Alten Reich, nach den Trägern und Wegen ihrer Vermittlung.
Um die Wirkung der Französischen Revolution auf Deutschland in ihrem Ausmaß und
ihrem Charakter genauer abschätzen zu können, als es bislang möglich ist, plädiert der
vorliegende Beitrag daher dafür, die verdienstvolle Revolutionsforschung durch einen
Arbeitsansatz zu ergänzen12, der hauptsächlich drei Grundsätzen verpflichtet ist. Erstens gilt
es, die übliche Perspektive umzukehren und von der französischen Seite auszugehen: kritische
Wirkungsgeschichte darf sich nicht auf die Empfänger beschränken, sondern muß die histori-
sche Erscheinung von ihrem Ursprung bis zu ihrer Wirkung verfolgen. Dies bedingt zweitens
eine komparatistische Fragestellung in dem Sinne, daß man Vergleichbares vergleicht: erst
konkrete und nachgewiesene französisch-deutsche Gemeinsamkeiten und Zusammenhänge
ermöglichen Aussagen, ob und wie die »Nachahmung« vom »Vorbild« abweicht. Dabei
kommt drittens soziokulturellen Erscheinungen eine besondere Bedeutung zu, weil - anders
als die diplomatischen und wirtschaftlichen Beziehungen - der deutsch-französische Kultur-
austausch sozialhistorisch erst unzureichend erforscht ist13 und weil sich die Französische
Revolution immer mehr als eine Kulturrevolution erweist14. Wenn sie also nennenswerte
Wirkungen im Alten Reich gehabt haben sollte, dann müßten diese nicht zuletzt auch im
kulturellen Bereich liegen.
Der Einwand liegt nahe, diese Grundsätze seien gewiß theoretisch plausibel, aber doch
etwas spitzfindig und mangels geeigneter Quellen uneinlösbar. Doch bevor der Skeptiker dem
11 Näheres bei R. Reichardt, Die Französische Revolution als Maßstab des deutschen >Sonder-
weges<?, in: J.Voss (Hg.), Deutschland und die Französische Revolution, München 1983,
S. 323-327.
12 Ausführlicher bei R. Reichardt, Die Französische Revolution und Deutschland - Thesen für
einen komparatistischen kulturhistorischen Neuansatz, in: Aretin/Härter (wie Anm.*) S. 21-28.
13 Vgl. M.Espagne und M. Werner, Deutsch-französischer Kulturtransfer im 18. und 19. Jahr-
hundert. Zu einem neuen interdisziplinären Forschungsprogramm des C. N. R. S., in: Francia 13
(1985) S.502-510.
14 R. Koselleck und R. Reichardt (Hgg.), Die Französische Revolution als Bruch des gesell-
schaftlichen Bewußtseins (Ancien Regime, Aufklärung und Revolution 12), München 1988; R. Rei-
chardt, Von der politisch-ideengeschichtlichen zur sozio-kulturellen Deutung der Französischen
Revolution: deutschsprachiges Schrifttum 1946-1986, in: GGes 15 (1989) S. 115-143.