117
Boreas und Michael.
i. Nach der Chronik des Malalas war an der Pontoseinfahrt bei Byzanz in
einer bewaldeten Bucht ein altgriechischer Dämon namens Sosthenes Vorgänger
des hl. Michael an dieser selben heiligen Stätte. Beide Kulte waren mit Inkuba-
tionsmantik verbunden, der christliche also Fortsetzung des heidnischen. Die
Ortslegende hatte die Argofahrer zu Gründern des Sosthenes-Kultus gemacht
und erzählt, daß Sosthenes ihnen den Sieg über Amykos hier im Traume einst
vorausgesagt. Sein Säulenbild trug nach Malalas an den Schultern Adlerflügel,
hatte ein wildes Gesicht und ungepflegte Kleidung ,wie ein Mönch'1). ,Am aller-
wenigsten kann der Name der hier gemeinten Gottheit aus der nur von Malalas
erwähnten und beschriebenen Statue erschlossen werden; denn weder die Mytho-
logie noch die Kunst des Altertums kennt geflügelte Gottheiten in mönchartiger
Tracht' wird gesagt2); man denkt lieber an ein Versehen der Berichterstattung·,
obwohl es doch immer mißlich bleibt, ein Zeugnis, in dem ein Zug nicht oder
noch nicht belegt werden kann, für fehlerhaft zu erklären. Ein anderer Ausleger
meint, eine göttliche Flügelgestalt vom Himmel den Argonauten bei Byzanz er-
scheinend, das müsse Christliches sein: also ein christlicher Engel! Wir sollen in
der Säulenstatue ein Votiv erblicken, welches mitsamt dem Heiligtum zum Dank
für eine durch einen Engel — einen christlichen — bewirkte Errettung· aus
Krankheit oder Meeresgefahr errichtet worden sei. Dieser Erklärer mutet uns
zu, die von ihm frei erdachte Fabel zwar hinzunehmen, die altüberlieferte aber
wegzuwerfen. Überhaupt aber: man muß doch sehr unwissend sein, um aus den
Adlerflügeln gerade auf Christliches zu geraten. Ohne Widerrede bleibt die Flügel-
gestalt heidnisch, nicht bloß weil die Fabel es sagt, sondern weil die Fabel
ohne die heidnische Natur jenes Flügeldämons g'ar nicht bestehen würde.
Der moderne Kirchenmann will — dem bekannten historischen Papstbefehl ent-
*) Nach Malalas hätte sich Konstantin d. Gr.
den Namen des Engels (Michael) durch Tempelschlaf
verschafft. So sagt derselbe Michael einer Nonne
Namen und sein Amt, das Führeramt der Seelen
(W. Lüken, Michael 99 f.). Nach Deubner, De in-
cubatione 68 trägt der Gott oder Dämon keinen
Namen. Allein Ortsname und Gottname fallen bei
Malalas zusammen (bei andern Byzantinern Σωσθ·έ-
viov), und im Periplus (Geogr. Gr. ed. Müller I 422)
steht Σωσθ-ένης, der Gott, für den Ort. Auch Άμυκος
ist Orts- und Personenname (vgl. Androitas im Peri-
plus der Propontis Schol. Apoll. II 159); ganz wie in
neuerer Zeit S. Sebastian, S. Moritz, S. Wolfgang
und ungezählte Fälle. Übrigens hat auch die Marien-
kirche in Kyzikos (Malalas a. a. O.), die den Rheakult
fortsetzt, Verbindung mit der Argofahrt.
2) Lucius, Die Anfänge des Heiligenkultes 1904
S. 104.
Boreas und Michael.
i. Nach der Chronik des Malalas war an der Pontoseinfahrt bei Byzanz in
einer bewaldeten Bucht ein altgriechischer Dämon namens Sosthenes Vorgänger
des hl. Michael an dieser selben heiligen Stätte. Beide Kulte waren mit Inkuba-
tionsmantik verbunden, der christliche also Fortsetzung des heidnischen. Die
Ortslegende hatte die Argofahrer zu Gründern des Sosthenes-Kultus gemacht
und erzählt, daß Sosthenes ihnen den Sieg über Amykos hier im Traume einst
vorausgesagt. Sein Säulenbild trug nach Malalas an den Schultern Adlerflügel,
hatte ein wildes Gesicht und ungepflegte Kleidung ,wie ein Mönch'1). ,Am aller-
wenigsten kann der Name der hier gemeinten Gottheit aus der nur von Malalas
erwähnten und beschriebenen Statue erschlossen werden; denn weder die Mytho-
logie noch die Kunst des Altertums kennt geflügelte Gottheiten in mönchartiger
Tracht' wird gesagt2); man denkt lieber an ein Versehen der Berichterstattung·,
obwohl es doch immer mißlich bleibt, ein Zeugnis, in dem ein Zug nicht oder
noch nicht belegt werden kann, für fehlerhaft zu erklären. Ein anderer Ausleger
meint, eine göttliche Flügelgestalt vom Himmel den Argonauten bei Byzanz er-
scheinend, das müsse Christliches sein: also ein christlicher Engel! Wir sollen in
der Säulenstatue ein Votiv erblicken, welches mitsamt dem Heiligtum zum Dank
für eine durch einen Engel — einen christlichen — bewirkte Errettung· aus
Krankheit oder Meeresgefahr errichtet worden sei. Dieser Erklärer mutet uns
zu, die von ihm frei erdachte Fabel zwar hinzunehmen, die altüberlieferte aber
wegzuwerfen. Überhaupt aber: man muß doch sehr unwissend sein, um aus den
Adlerflügeln gerade auf Christliches zu geraten. Ohne Widerrede bleibt die Flügel-
gestalt heidnisch, nicht bloß weil die Fabel es sagt, sondern weil die Fabel
ohne die heidnische Natur jenes Flügeldämons g'ar nicht bestehen würde.
Der moderne Kirchenmann will — dem bekannten historischen Papstbefehl ent-
*) Nach Malalas hätte sich Konstantin d. Gr.
den Namen des Engels (Michael) durch Tempelschlaf
verschafft. So sagt derselbe Michael einer Nonne
Namen und sein Amt, das Führeramt der Seelen
(W. Lüken, Michael 99 f.). Nach Deubner, De in-
cubatione 68 trägt der Gott oder Dämon keinen
Namen. Allein Ortsname und Gottname fallen bei
Malalas zusammen (bei andern Byzantinern Σωσθ·έ-
viov), und im Periplus (Geogr. Gr. ed. Müller I 422)
steht Σωσθ-ένης, der Gott, für den Ort. Auch Άμυκος
ist Orts- und Personenname (vgl. Androitas im Peri-
plus der Propontis Schol. Apoll. II 159); ganz wie in
neuerer Zeit S. Sebastian, S. Moritz, S. Wolfgang
und ungezählte Fälle. Übrigens hat auch die Marien-
kirche in Kyzikos (Malalas a. a. O.), die den Rheakult
fortsetzt, Verbindung mit der Argofahrt.
2) Lucius, Die Anfänge des Heiligenkultes 1904
S. 104.