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Panofsky, Erwin; Saxl, Fritz
Dürers "Melencolia I": eine quellen- und typengeschichtliche Untersuchung — Teubner, 1923

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https://doi.org/10.11588/diglit.31125#0045
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24

Das Mittelalter

zu dem vierten Mal ist tzu wyssen das der melancolicus von der eygen-
schafft wegen der kelten ist hässig, traurig, vergässen, träg vnd
vnbehend; Zu dem fünfften ist der melancolicus von seiner eygen-
schaffte wegen das er wenig beg'ert vnd lützel. vnd er mag (== ver-
mag) auch nitt vil. Er begeret lützel von seiner traurigkeit wegen. vnd
mag wenig von seiner kelte wegen.“1)

i) Schönsperger, teutscher Kalender, Augsburg, 1495, fol. g 5 r; noch in
einer so populären Darstellung, ganz abseits von allem Humanismus, haben sich
also die antiken Zusammenordnungen der Elemente, Temperamente, Jahreszeiten
und Lebensalter erhalten, wie sie dann wenige Jahre später — nur mit dem Unter-
schied, daß auch die Winde noch hinzutreten, und daß der Melancholiker an Stelle
des Herbstes den Winter bezeichnet — in Dürers Celtesholzschnitt B. 130 ihre
bildliche Darstellung gefunden haben. Interessant ist es, das Eindringen dieses
kosmologischen Vierer-Systems in die christliche Ikonographie zu verfolgen: in
der Rostocker Erztaufe von 1 920 werden die vier Paradiesesflüsse des älteren Hil-
desheimer Vorbildes zu den vier Elementen umgedeutet, und in der Bardowieker
Taufe von 1367 sind die vier Trägerfiguren so auffällig differenziert, daß sie wohl
sicher als Verkörperungen der vier Temperamente gedeutet werden dürfen.
— Ebenso wie in den Illustrationen solcher Kalender gelegentlich der ,,reli-
giosus“ auftritt so wird das starke Gedächtnis des Melancholikers und seine Nei-
gung zu geistigen Arbeiten hier und da auch in ihren Texten anerkannt. So in
dem in der vorigen Anmerkung genannten Rostocker Schäferkalender. „He ys
geneget to studeringe unde to velen slap van der kolden Natur wegen“, ,,he ys
von vasten synne vnde guder memorien . . .“ ,,Se beleuen schrifft vnde lerynde.
Vnde se don gerne grote penitentie“ ... — Daß dem Melancholiker bald Gleich-
gültigkeit gegen den Schlaf, bald gerade umgekehrt eine Neigung zu vielem
Schlafen zugeschrieben wird, ist medizinisch dadurch begründet worden, daß
man der schwarzen Galle in bezug auf Schlaf und Wachen eine Doppelfunk-
tion zuschrieb (vgl. etwa Constantinus Africanus, a.a. O. p. 289: ,,Cholera autem
nigra m actione sua duplex est circa somnum et vigilias. Quae enim dominatur
essentialiter, cerebrum deprimens, ex fumi multitudine nimium facit dormire. Quod
si cum suis qualitatibus faciat vel cum qualitate faciat vere incensa, unde naturaliter
fit nigra, vel cum iam fere incensa. Nigra autem naturaliter somnum facit. Fere
incensa qualitas facit vigilias, quia pangit cerebrum et desiccat.“) So schreibt auch
derselbe Eobanus Hessus, der einmal (De conservanda bona valetudine, Frankf.
1551, fol. 120f.) die oben angeführten, das geringe Schlafbedürfnis der Melan-
choliker rühmenden Merkverse der Salernitaner zitiert, an anderer Stelle (Farri-
gines, 1549, Bd. II, Nr. 9, fol. 80v) durchaus im Sinne der Kalendertexte „anxius
et niger est, timet omnia tristia, dormit Mole sua bilis quem nimis atra premit“.
Auch in dieser Gegensätzlichkeit findet letzten Endes die der Melancholie
grundsätzlich eigene Polarität ihren Ausdruck. Ganz ebenso wird den
Melancholikern bald völliger Mangel an sexuellen Bedürfnissen zugeschrieben (vgl.
etvva den im Text zitierten Passus aus dem Schönspergerschen Kalender oder die
Ausführungen Wilhelms von Auvergne) — bald maßlöse Begehrlichkeit und In-
kontinenz. Dieser zweiten, bereits von Aristoteles vertretenen Ansicht huldigt auch
Marsiglio Ficino (Liber de voluptate, Opera p. 1007): ,,... Eaque de qua disserimus
insita indigentia iuvenibus potissimum Melancholicisque contingit . . . et Melan-
cholici maxirne omnium incontinentes atque intemperantes esse solent.“
 
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