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Monatsblätter für christliche Kunst I. Jahrgang, 9. Heft, Juni 1909
Verlag der Gesellschaft für christliche Kunst. Preis für den Jahrgang inkl. Frankozustellung M 3.—

ÜBER GLOCKENSTÜHLE UND
-TÜRME
Von HUGO STEFFEN, Architekt, München
Glockengeläute, Himmelsklänge! Wer
möchte sie wohl missen, die weithin
schallenden, hoch oben vom Turme hernieder-
klingenden rhythmischen Töne, wem sprächen
sie nicht zu Herzen in ihrer innigsten Ver-
bindung mit unserem Lebenslaufe, in Freuden
und Leiden? Die helle, den Tagesanbruch ver-
kündende Morgenglocke, das Mittag- und
Abendläuten, wie ist’s uns unentbehrlich, was
würden wir wohl sagen, wenn es verstummte?
Volles Geläute leitet unsere höchsten Feste
ein, ladet mahnend zum sonntäglichen Gange
ins Haus des Herrn und wie oft schon lenkte
der Kirchenglocke Ton einen Verirrten auf
den rechten Pfad! So klingen sie das ganze
Jahr hindurch über Stadt und Land, besungen
von den Dichtern aller Zeiten. „Vivos voco,
mortuosplango, fulgura frango“, schrieb Schiller
über sein unsterbliches Lied von der Glocke.1)
Und nach glücklich vollendetem Gusse legt er
dem Meister, der sie gegossen, den Wunsch in
den Mund: „Dass sie in das Reich des Klanges
steige, in die Himmelsluft“. Ja, hoch oben
im Turme ist ihr Platz, je höher sie dort hängt,
desto weithinschallender tönt ihre Stimme, aber
auch um so gefährlicher wird sie dessen Mauern.
Vom Mittelalter bis zur Neuzeit haben die
meisten Kirchtürme durch das Glockengeläute
Alte Glockeninschrift.

mehr oder weniger gelitten, bekamen Risse
und Sprünge; manche von ihnen mussten so-
gar abgetragen und neu errichtet werden.
Ich erwähne hier nur die von Hameln und
Höxter, sowie die Glockentürme des Domes
und der Ulrichskirche zu Halle a. d. Saale,
Mücheln bei Wettin, manche der Rheinlande
usw. Auch S. Marco in Venedig ist nicht
nur der schlechten Fundamente wegen ein-
gestürzt, sondern das Geläute trug mit die
Schuld; man hatte versäumt, den Turm recht-
zeitig und gründlich daraufhin zu untersuchen
und die im Laufeder Jahrhunderte entstandenen
Schäden zu beheben.
Die alte Zeit kannte keine eigentlichen
Türme in unserem Sinne; erst seit dem frühen
Mittelalter fing man an, zur Aufhängung der
Glocken an christlichen Kirchen, später auch
bei Rathäusern und Stadttoren, Türme zu er-
richten, welche in der ältesten Zeit in Deutsch-
land meist rund waren, aber selten, wie dies
in Italien allgemein üblich, freistehend an-
gelegt wurden. Oft gab man dem ganzen
westlichen Kirchenvorbau die Gestalt eines ein-
fachen, länglichen Viereckes, liess dieses ein
Stück über das eigentliche Dach hinwegragen,
schloss oben mit einem Satteldach ab oder
errichtete an den Ecken desselben zwei turm-
artige Aufbauten, die sich dann allmählich zu
wirklichen Türmen ausbildeten. Von dieser
Zeit an datieren auch erst die grösseren ge-
gossenen Glocken1) und mit diesen, sowie den
Vergl. den Art. „Über Glockenzier“, 5. Heft. D. R.
 
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