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Monatsblätter für christliche Kunst, praktische Kunstfragen und kirchliches Kunsthandiverk
III. Jahrgang, 6. Heft März 1911
Verlag der Gesellschaft für christliche Kunst, München. — Preis des Jahrgangs inkl. Frankozustellung M3.—

BESUCH EINER BILDHAUER-
SCHULE
Von S. Staudhamer.
Ars longa, vita brevis. Die Laufbahn des
Künstlers ist keineswegs so rosig und
poetisch, wie manche Kreise meinen, denen
der Einblick in den Ernst der Wirklichkeit
fehlt. Eine lange Reihe von Jahren strengen
Studiums harrt des Jünglings, der in eine
höhere Kunstschule eintritt, wenn er einmal
dazu kommen soll, als Meister in Ehren zu
bestehen. Aber auch dann, wenn ihm end-
lich der grosse Wurf gelungen, darf der
Künstler nie auf hören, zielbewusst weiter zu
lernen: Die Kunst ist lang, das Leben kurz!
Kaum irgendwo macht sich das Sprichwort:
„Stillstand ist Rückgang“ so grausam geltend,
wie in der Kunst. Bildet sich der geborene
Meister aus Achtung vor der Kunst und im
Bewusstsein der menschlichen Unzulänglichkeit
weiter, so müsste es der mittelmässig begabte
Künstler schon um seiner wirtschaftlichen
Selbsterhaltung willen tun.
Wir werden noch manchmal die Gelegen-
heit wahrnehmen, mit unseren Lesern die
Werkstätte eines Künstlers zu besuchen, um
dort auf das technische Werden und geistige
Heranreifen von Gemälden und Plastiken zu
achten. Denn der Einblick in das Entstehen
der Kunstwerke erhöht das Verständnis für
die Kunst und die Achtung vor der künst-

lerischen Tätigkeit. Heute wollen wir in
einer Bildhauerklasse einer Kunstschule Um-
schau halten. Die Abbildungen S. 43 und 44
führen uns die Klasse des Professors Gras-
egger an der Kunstgewerbeschule in Köln
vor Augen.
Die Aufnahme in eine Kunstgewerbeschule
hängt von einer Prüfung ab, in welcher der
Bewerber den Nachweis liefern muss, dass er
bereits einige Fertigkeit im Zeichnen nach Vor-
lagen, nach Gips und nach der Natur besitzt.
Entsprechend strenger sind die Aufnahme-
prüfungen für die Kunstakademie. Der an-
gehende Bildhauer hat sich nun vor allem
eine gründliche Kenntnis des menschlichen
Körpers, seiner äusseren Erscheinung und
deshalb auch seines Organismus anzueignen,
soweit dieser die Formen und Bewegungen
bedingt. Die Leibesformen studiert der Schüler
zum Teil an Meisterwerken der Vergangen-
heit und Gegenwart, namentlich aber an der
Natur, am lebenden Körper; letzterer allein
ist imstande, eine richtige Vorstellung von den
Bewegungen und dem mit ihnen verbundenen
steten Wechsel der Körperoberfläche zu ver-
mitteln. Der Aufbau des Körpers und die
Wandlungen der sichtbaren, plastischen Form
sind vom Knochengerüst und vom Muskel-
system bedingt. Deshalb ist eine verstandes-
mässige, künstlerische Erkenntnis des Leibes
nicht möglich ohne eine Summe anatomischen
Wissens , noch weniger aber eine sichere
 
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