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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Hrsg.]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 13.1907

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Heft 6
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Hackemann, August: Goethe und sein Freund Karl Philipp Moritz
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https://doi.org/10.11588/diglit.26231#0243

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Goethe und sein Freund Karl Philipp Moritz.

die materiellen Sorgen hinzutraten, im Hause nichtS als
Unfrieden und Verwünschungen. Unter solchen Er-
scheinungen wuchs daS Kind aus, rrnd so ergab es sich,
daß Moritz, wenn er seiner Kinderjahre gedenkt, vor
Gram und innerem Schmerz nicht Worte genug findet,
um seine damaligen Kümmernisse zu kennzeichnen. Und
als ihm nun einmal heimlich von seiner Mutter die
Jnsel Felsenburg gegeben ward, als er las, wie der
Sachse Albert Julius aus einer phantastischen Jnsel im
Stillen Ozean ein eigenes Reich sich gründete, wie er
Leute um sich versammelte, ihnen eine Existenz schuf, sie
glücklich machte und von ihnen alS König angebetet
war, da war es sür ihn das Höchste, sich in seinen
Phantasien in diese Lage hineinzudenken. Nannten ihn
doch auch noch in den späteren Jahren seine Aeitgenossen
den Anempfindler, weil er so gerne sremde Gefühle
in sich ausnahm, und so dachte er nach dem Lesen
dieseö Buches an nichts anderes, als auch einmal eine
große Rolle im Leben zu spielen.

Das Kind war zum Knaben geworden und wurde
in die Stadtschule geschickt. War die Schule auch ein
altes, geschwärztes Gebäude mit niedrigen, gewölbten
Iimmern, mit Schulmöbeln, zerfressen vom Holzwurm
und Iahn der Zeit, so deuchte sich Moritz doch im
Himmel. Er studierte sehr sleißig, war der Erste in
der Schule und sein Talent war anerkannt, bis der
Vater plötzlich erklärte, er könne das Schulgeld nicht
aufbringen. Da ging er nun herum ohne Beschäftigung,
immer nur seinen Phantasien und einer ungeordneten
Lektüre hingegeben. So stand er dem elsten Jahre
nahe, ohne etwas Rechtes zu wissen, und der Vater
mußte endlich daran denken, ihn etwas lernen zu lassen.
Er sand sür ihn eine Stclle bei seinem Freunde, einem
Hutmacher in Braunschweig; dort sollte er vorzüglich
mit Schreibereien beschäftigt werden. Mehr bedurfte
es sür den phantasiereichen Knaben nicht, und
sofort konnte er den Augenblick nicht erwarten, aus
seiner Vaterhütte und aus den leidigen unbeftiedigenden
Verhältnissen der Familie herausgerissen nunmehr Be-
schäftigung in der Frenrde zu finden. Leider wurden
seine Gebilde und Hofsnungen nur zu bald zunichte.
Dieser Hutmacher war ein noch strengerer Quietist als
sein eigener Vater. Lachen und Singen war in seinem
Hause unter Strafe verboten. Auch wurde der Knabe
nicht zum Schreiben verwendet, sondern mußte Holz
hacken, Kohlen tragen, die Hüte zu den Kunden bringen.
Seine Hauptarbeit war im Winter, in einer eisigkalten
Stube Wolle zu kratzen, die Hüte in den siedenden
Färbekestel hineinzugeben, dann herauszunehmen, um sie
wieder in die Ocker, dem Flusse Braunschweigs, ein-
zutauchen und auSzuspülen, wobei er manchmal das
Eis durchbrechen mußte, um sließendes Wasser zu haben.
Moritz war den Anstrengungen nicht gewachsen. Er
ward krank und wurde vom Vater an die düstere
heimatliche Stätte zurückgebracht. Trotz des gebrochenen
Körpers aber brachte er alle die Phantasien der Jugend
mit, die ja in diesen Jahren nie ersterben. Wenn er
nun ch allein mit seinen Brüdern durch Hannover
wanderte, beim Stadtwall vorüber, an den Gebüschen
vorbei, da gestaltete sich in seiner Phantasie Stadtwall
und Gebissch zu einem großen Gebirge, da sah er Jnseln
und Flüsse und dachte meilenweit zu wandern, und

spielte dasjenige im Leben scheinbar ab, was er in seinen
Romanen gelesen.

Besonderen Eindruck machte auf ihn die Kirche.
Weil die Quietisten nicht zur Kirche durften, hatte er
in Braunschweig im geheimen die Kirche besucht und
den Prediger mit angehört. Der Eindruck war ein
tiefer, unauSlöschlicher. Nach Hannover zurückgekehrt,
ging ihm die Erinnerung nicht auö dem Kopf, er wollte
auch ein solcher Prediger werden. Sein Lieblingsspiel war
daher, im Zimmer sich eine Kanzel auö übereinander
gestellten Stühlen zu errichten und von dort auö Predigten
an seine Geschwister zu halten. Die Kanzel hielt einst
nicht ftand und fiel unter großem Getöse über die
Kinder zusammen. Der Vater stürmte herein und schlug
wie wütend auf den unberusenen Prediger los.

Mit dreizehn Jahren sollte er nach Landessitte zur
Konfirmation vorbereitet werden. Da zeigte es sich,
daß er an religiösem Wissen seine Lehrer weit übertraf.
Da er nun auch allenthalben von seiner heißen Sehn-
sucht, Student zu werden, Kenntnis gab, wurde man
auf ihn ausmerksam. Der Garnisonprediger von
Hannover erkundigte sich nach seinen Lebensschicksalen,
hörte von seinem glänzenden religiösen Wissen und brachte
es dahin, daß der Kommandant der Stadt, Prinz Karl
von Mecklenburg-Strelitz, ihm eine Pension aussetzte.
Nunmehr scharten sich alle um Moritz, jeder wollte
etwas sür ihn tun. Ein Hoboist, der mit seiner Frau
ohne Kinder dastand, erklärte, ihm sreies Quartier und
Kleidung zu geben; die anderen, ein Kantor, ein Gar-
koch, ein Musiker, ein Seidensticker und wie sie alle
ihrer Beschäftigung nach hießen, erboten sich zu Frei-
tischen, und so war plötzlich sür den Knaben gesorgt.
Das Geld des Prinzen sollte sür ihn aufbewahrt werden,
damit, wenn er die Universität beziehe, sür seine Be-
dürsniste vorgesorgt sei. Gerade darin aber lag die
Quelle großer Leiden sür Moritz. Jeder, der sich seiner
annahm, glaubte auch ein besonderes Anrecht auf ihn
zu haben, jeder an ihm herumerziehen zu dürsen, so daß
Moritz in Klagen ausbrach, zu Hause wäre zwar
sein Teil auch nichts gewesen als Leiden und Schmerzen,
allein da habe er wenigstens das Gefühl gehabt, zu
Hause zu sein; jetzt aber sühle er sich neben seinen Leiden
noch als Geduldeter, von fremden Wohltaten abhängig.

Mit sünszehn Jahren kam der Knabe aus den
Elementarklassen in die Sekunda der Mittelschule und
war nun Student. Seine Quartiersfrau machte ihm
aus einem alten blauen Soldatenrocke ein Kleid, wo-
durch er von den anderen Schülern abftach. Moritz
war außerordentlich fleißig und auch hier der Erste.
Jnsbesondere waren es die deutschen Arbeiten und die
Deklamation, worin er sich hervortat. Einer seiner Mit-
schüler war Jffland. Er behandelte Moritz wohl mit
größerer Aufmerksamkeit, als die übrigen Kameraden
es taten, doch näher traten sie sich nicht. Auf Ver-
anlassung seines Gönners nahm der Rektor den jungen
Menschen, der inzwischen siebzehn Jahre alt geworden
war, zu sich. Der Rektor war eine edle Natur; nur
vergaß er, daß er nicht einen erzogenen, sondern einen
in der Erziehung vernachlässigten Jüngling zu sich nehme
und daß gerade die Erziehung einer bedeutenden Pflege
bedürse und sich durch Talent niemals ersetzen lasse.
Nachlässige Angewohnheiten des Moritz machten ihn dem

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