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Verband der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein [Editor]
Die Rheinlande: Vierteljahrsschr. d. Verbandes der Kunstfreunde in den Ländern am Rhein — 13.1907

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Heft 5
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Jacques, Norbert: Mariens Tor: eine Novelle
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https://doi.org/10.11588/diglit.26231#0204

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Manens Don

Von der Stunde ab hat er sie nicht mehr wieder
gesehen. Sie hatte das Haus heimlich verlassen und
war wohl noch in derselben Nacht zu ihrer Mutter nach
Saargemünd gefahren. Aber auch dessen war er nicht
sicher.

Als sie nicht wieder kam, begannen ihn die Wohnung
und die Straßen der Stadt zu bedrängen. Er fühlte
sich von ihnen verhöhnt und verfolgt. Seine Schritte
klangen und hallten schwer und mit bäuerischen Lauten
zwischen den Wänden und klapperten in einem ängst-
lichen, übertriebenen Verhallen nach. Es war ihm, als
wollten die Leute ihn fragen, wo denn der lächelnde Gang
seiner kleinen Frau geblieben sei, und als ahnten sie die
Ursache, weshalb er allein ging. Das ertrug er nicht.

So wanderte er denn eines Tags über Land und
kaufte sich in einem Nachbarort des Dorfes, in desten
Herrenbauernhaus er vor fast vierzig Jahren geboren
worden war, eine verlassene Bauernstelle. Das kleine
Dörfchen hieß Creuse. Es hatte nur zwei kurze Häuser-
reihen längs eines breiten, unebenen und grasüber-
wucherten Weges, und die Häuser waren teils Hütten,
teils lagen sie verlasten in Ruinen, ohne Dächer, ohne
Türen und Fenster. Ihre ehemaligen Bewohner hatte
der Boden nicht mehr zu ernähren veruwcht und sie
waren in die jungen und kräftigen Industriezentren ge-
zogen, deren rauchende Schlote hinter den fernen Hügeln
einen langen Iaun aufstellten. Dort waren sie Arbeiter
geworden. Ihre wertlosen Häuser verfielen langsam in
den Dörfern. Niemand ersetzte die Davongegangenen.

Das Hauö, das Stanislaus alsbald gegen seine
Metzer Wohnung tauschte, war größer als alle andern
des Dorfes. In dem neuen Glanz seines roten Iiegel-
daches und seiner weißen Tünche hob es sich wohl-
habend aus den ärmlichen Häusern heraus und besaß
etwas Herrschaftliches. Stanislaus verließ es selten.
Er saß oft am Fenster und schaute über die Straße
hinweg. Drüben war ein großer Teich; sein Wasser
lag tot unter einer dicken, unbeweglichen Moordecke.
Hinter dem Teich flossen die farbloS braunen Felder in
der Talmulde dahin, ost unterbrochen von brachliegen-
dem Ackerland und von dürren Heidestreifen, in denen
seltene kleine Tannenbäumchen starrten. Weit in der
Ferne zogen hinter dem Kanal langer, wenig tiefer
Täler die Schleier der blauen Vogesen und waren voll
Duft und lichter Schönheit, die nicht in das müde
Land hineingehörten und wie eine Erscheinung sonniger
Tage ferne ftanden.

Alles was ihn neu in dem Dorfe umgab, war schon
mit hineingewachsen in die Gedanken um Minni und
die Enttäuschungen seines verflostenen Lebens. Aber wie
ein mooriger Teich lag es, untätig, müde und ftillstehend
in ihm und verrankte sich unter dem blinden Spiegel
des Wassers ineinander. Niemals kam ein Fortschritt,
eine Handlung, eine Erkenntnis in seine Schmerzen, und
eigentlich schien es ihm, als sei alles mit ihm so ge-
wesen, schon lange bevor sein Dasein in einem bewußten
Leben schritt.

In diese Vorftellungen war die gewaltsame Plötzlich-
keit deö Mondes gefallen. Das Licht ftand mit einer
seften Gebärde aus den armseligen Hütten und hob die
versallenen Häuser heraus. Das Auge des Teiches schlies

schwarz berührt, und das große Brachfeld hinter ihm
war ftruppig und öde. Das grünliche Licht hatte ein
höhnischeö Lächeln, und aus ihrer grausamen Starrheit
drang eine Erkenntnis in den Unglücklichen: daß er
mitten aus dem Verfall dieses Landes gewachsen sei.
Seine Ahnen hatten seit undenklichen Ieiten aus den
Schollen gelebt, sich Reichtum und ihnen die Krast ent-
sogen, und er als der erste Undankbare war davon-
gegangen. Trotzdem war es dasselbe, wie die hungernden,
blassen Äcker und die Ruinen der alten Bauernhäuser.
Er wollte hinaus auö ihnen, weil er sie sürchtete, und
kam nie weiter, alö bis zum nahen Metz. Dort saß
er sest, und die Heimat behielt ihn in ihren Augen.
Sie ließ ihn nicht. Sie war grausam, schadensroh, an-
spruchsvoll. Sie klammerte eifersüchtig in ihre aus-
zehnge Dürftigkeit alles fest, was auch nur von serne
ihr gehörte. Sie nahm ihm die süßen Frauen, nach
deren sehnsüchtiger Schönhett er seine kranken Wünsche
sührte.

„Nun hast du mich ja wieder!" knirschte Stanislauö
und krallte die Hände erregt ums Fenfterkreuz.

Der verzweifelte Gedanke, willenlos, verloren den
Ruinen seines Landes ausgeliefert zu sein, hieß ihn sich
nach Hilfe umblicken. Das Bild Minnis ftand vor
ihm. Sie war so frisch, so jung. Sie war nur: sie
selber. Es erfüllte ihn nun mit Bewunderung, daß sie
sich von ihm losgerissen hatte, und er ergab sich wieder
uneingeschränkt ihrer Liebe.

„Du könntest mir helsen, Minni!" sprach er in die
Nacht hinaus. Er sühlte wohlig die Inbrunst seiner
Stimme und ging schnell und voll Hossnung hinter
diesen neuen Gedanken weiter. Ich werde ihr schreiben,
sagte er sich. Alles, alles werde ich ihr schreiben, von
wo ich komme, was ich bin. Und daß sie recht hatte
zu tun, was ich ihr nie vergeben habe. Sie war die
Stärkere von uns. Sie soll die Führung übernehmen,
und dann gingen sie beide in ein stilles Glück hinein.

O, wie wollte er ihr kindlich gehorsam sein, ihr
solgen. „Minni, du süße kleine Frau!" so betete er,
„du, du hilfst mir!"

Er schloß die Läden und das Fenster und zündete
die Lampe an. Dann setzte er sich hin und schrieb ihr
einen langen Brief, daß nun alles anders mit ihm sei,
und flehte sie an, daß sie zu ihm zurückkehren möchte.

Währenddessen war der Mond vor dem Fenster,
und das Netz seines Lichtes lag mit grünlichen, höhnischen
Maschen sest über den Ruinen der Höse und über den
Brachfeldern und ließ nichts entschlüpsen. In dem toten
Teich sangen sich die Frösche zu, und auö den Haus-
ruinen slatterten Fledermäuse auf; sie schwangen ihre
schwarzen Gewänder irre durch die Straßen und schlugen
oft an die Fenfterläden von Stanislaus' Stube, in
desten Ritzen blasse Lichtstreisen lagen.

* *

*

Der Brief war schon seit einer Woche sort. Stanis-
laus hatte ihn auss Geratewohl an Minnis Mutter
adressiert. Es war ja gleich; denn er war seiner guten
Sache sicher. Er ging sröhlich umher, wanderte stunden-
lang über die Felder und durch die Dörfer und stritt sich
luftig mit den brachliegenden Ackern und den Häuserruinen:
 
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