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Rooses, Max
Geschichte der Malerschule Antwerpens: von Q. Massijs bis zu den letzten Ausläufern der Schule P. P. Rubens — München, 1881

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https://doi.org/10.11588/diglit.20661#0045
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II. Die älteren Niederländifchen Maler.

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jede Note kräftig für fich felbft ift. Es ift ein Lied von Gottesdienft und Ein-
falt, gefungen von zarten Mädchenftimmen unter den fchlanken Bogen einer
gothifchen Klofterkirche, die durchftrömt wird von dem geheimnifsvollen, ge-
dämpften Licht, das durch die farbigen Scheiben hereindringt.

Berühmter noch als dies Werk ift Memlinc’s Reliquienfehrein der hl.
Urfula, der in kleinen höchft forgfältigen Täfelchen die hervorragendften Be-
gebenheiten aus dem Leben der hl. Urfula und der ihr folgenden elftaufend
Jungfrauen zu fehen gibt. Hier wie überall bleibt Memlinc ein rein in lieh ge-
kehrter Künftler, aber er wirft, wie van Eyck in feinen kleineren Gemälden, in
diefen farbenreichen Täfelchen einen viel offeneren und unbefangenem Blick in
die Aufsenwelt.

Sahen wir fonach bei van Eyck gottesdienftliche Feierlichkeit mit glän-
zender Farbenpracht, bei van der Weyden Tiefe des Ausdrucks mit halten Be-
wegungen und hellen Farben, fo finden wir bei Memlinc zarte anmuthige Be-
fcheidenheit mit milderen Tinten.

Faffenwirnun die Momente zufammen, welche die ältere niederländifche
Schule charakterifiren, ohne darauf Rückficht zu nehmen was jedem einzelnen
Meifter insbefondere eigen ift, fo finden wir einen entfehiedenen F arbenr eich-
thum, der fich in glänzenden bunten Gewändern, im feft durchgeführten
Nackten, in reich ausgeftatteten Hintergründen und hellen Fernfichten darftellt.
Die Ausführung Aller ift fehl- eingehend: Zug für Zug wird jede Befonderheit
an den Menlchen, ihren Kleidern, ihren Wohnungen wie auch in der Natur
aufgefafst und treu wiedergegeben. Die forgfältige Ausführlichkeit ift die na-
türliche Genoffin der Wahrheitsliebe: Die älteren Maler fafsen nicht zufammen,
geben nicht den allgemeinen Eindruck der Dinge, fondern die Dinge felbft
wieder. Sie ftellen den lebenden Menfchen nicht nackt dar, daher mufsten fie
ihre ganze Aufmerkfamkeit auf die detaillirt und reich gemalten Kleider
und auf die Gefichtsztige werfen, in welch letztere fie wie in einen klaren
Spiegel der Seele tiefes Gefühl legten. Sie kannten die Luftperfpective nur
unvollkommen und machten von Helldunkel-Effekten keine Anwendung. Ihre
Werke find mit voller Klarheit tibergoffen, alles hebt fich in fcharf abgegränztem
Contour von einander ab: alle Farben mufsten ihren harmonifchen Einklang
durch ein künftlerifches Gleichgewicht, nicht durch Abtönung und Schattenwirkung
erlangen. Die Schärfe der Linien, die vollfärbigen und in fchweren Falten
fallenden Gewänder, die reich geftalteten Hintergründe, der Mangel an Be-
wegung und Zufammenhang der Menfchen und an Luftmedium zwifchen allem
bewirken, dafs die Menfchen nicht gänzlich von einander und aus ihrer Um-
gebung loskommen, dafs fie etwas Steifes und Unbewegliches behalten und
dafs fie mehr inneres als äufseres Leben zeigen.

Mit diefer ruhigen Haltung ftimmt die ftark ausgefprochene Neigung
der älteren Meifter vollkommen überein, Andachtsbilder lieber auf finnbildliche
denn auf dramatifche Weife, lieber in ftreng regelmäfsiger, als in frei bewegter
Anordnung, lieber in traditionellen Formen als nach frei fchaffender Eigenwahl
wiederzugeben. Sie faffen ihre Kunft wie das Leben ernft auf. Eitel Augen-
blendwerk, weltlicher Sinn, muthwillige Ungebundenheit, diefs alles war für die
züchtigen, rechtfchaffenen, kindlich gläubigen Künftler ein Greuel. Lachend
und hell ift ihre Farbe und ihr Licht, fchwermüthig und tieffinnig find ihre
Figuren, welche noch nicht das volle Leben befitzen und noch wenig von der
Welt geniefsen. Ihren Nachfolgern war es Vorbehalten, Uebereinftimmung
zwifchen Farbe und Ausdruck, zwifchen Beleuchtung und Handlung, zwifchen
Körper und Seele zu bringen.

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